Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
französischen war in den 20er Jahren ein (auch von den Bolschewisten gerne benutzter) Gemeinplatz. Später, nachdem Stalin an die Macht gekommen war, wurde man vorsichtiger mit den Vergleichen.
»Ich nahm den ›Werther‹ aus meiner Feldtasche«
Der Ich-Erzähler liest
Die Leiden des jungen Werthers
auf deutsch. Er zeigt damit (in erster Linie sich selbst), daß er nicht nur die sowjetische Realität ignoriert, sondern auch die Realität des Krieges. Alles Deutsche war selbstverständlich verpönt und in einer realen, nicht so speziell konstruierten Situation hätte man sich davor gehütet, ein deutsches Buch mit sich zu führen: Man hätte leicht als Spion und Verräter denunziert werden können. Hier hat er keine Angst davor, und das ist die Haupteigenschaft seiner persönlichen Utopie: keine Angst mehr zu haben und Herr der Situation zu sein.
»Im Hause Oblonskij war alles durcheinander«
Der berühmte zweite Satz aus
Anna Karenina,
den man in Rußland sprichwörtlich sagt, wenn es zu einer Verwirrung kommt. Zitiert aus: Lew Tolstoj,
Anna Karenina.
Herausgegeben von Gisela Drohla. Übersetzt von Hermann Röhl. Insel Taschenbuch 3484; 2010.
»… ein Gedicht von Olejnikow«
Daß der Erzähler sich ein Gedicht von Nikolaj Olejnikow (1898–1937) aufsagt, ist noch ungewöhnlicher, als daß er »Werther« auf deutsch liest. Olejnikow gehörte zum Freundeskreis von und zur Dichtergruppe um Daniil Charms, den sogenannten
Oberiuten
oder
Tschinari
. Heute zählt man sie, und nicht nur in Rußland, zu den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, damals waren sie, außerhalb der Kinderliteratur, in der die meisten von ihnen einen Brotberuf gefunden hatten, völlig unbekannt. Olejnikow wurde 1937 verhaftet und hingerichtet. Seine Gedichte persiflieren das ernste und tragische, »hohe« Absurde der Gedichte und Dramen von Daniil Charms und Alexander Wwedenskij. Olejnikows Verse wirken auf den ersten Blick humoristisch; nur bei näherer und tieferer Lektüre bekommen sie dieselbe tragische Note wie die Werke seiner Freunde.
»… wie Manilow und Tschitschikow«
Figuren aus
Tote Seelen
von Nikolaj Gogol. Manilow erwähnt man sprichwörtlich für übertriebene, manierierte Höflichkeit und grundlose Träume und Projekte. In »Die Stadt N.« von Leonid Dobytschin, einem der wichtigsten Texte der späten Literaturmoderne in Rußland, träumt der junge Ich-Erzähler von einer Freundschaft wie der zwischen Tschitschikow und Manilow – er versteht Gogols Ironie nicht, nimmt alles wörtlich, was zu interessanten Effekten führt. Den schmalen Roman kann man auf deutsch in zwei Übersetzungen genießen (zuletzt in der von Peter Urban, Friedenauer Presse, Berlin 2009). Diese wunderschöne Prosa kannten im Leningrad der 30er Jahre viele auswendig.
»Der Betriebsbahnhof hatte einen französischen, irgendwie bretonisch klingenden Namen: Turdej«
Turdej ist der einzige Ort, der hilft, die Erzählung zu lokalisieren: Es ist ein Dorf im Umkreis der Stadt Tula, etwa 200 Kilometer südlich von Moskau. Der Name ist tatarischer Herkunft. Der Erzähler würde den Namen, der für ihn »französisch, irgendwie bretonisch« klingt, etwa so schreiben: »Tourdeille«. Näheres dazu siehe im Nachwort.
»Bildkarte von dem fürchterlichen ›Selbstbildnis mit dem fiedelnden Tod‹ von Böcklin«
Das »Selbstbildnis mit dem fiedelnden Tod« des Schweizer Künstlers Arnold Böcklin (1827–1901) war, neben seinem Gemälde »Die Toteninsel«, überall, auch in Rußland, sehr berühmt. Reproduktionen seiner Bilder waren Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen Wohnzimmern gebildeter Russen zu finden. Sergej Rachmaninow wurde von dem Bild »Die Toteninsel« zu seiner gleichnamigen Tondichtung inspiriert.
»Gottesnarr«
Das russische Wort »jurodiwyj« bedeutet eigentlich »ein Narr in Christo«, ein Mann oder eine Frau, der oder die in Lumpen von einem Dorf zum anderen zieht, betet, singt, bettelt, oder von frommen Leuten ernährt und bei sich gehalten wird; er oder sie kann auch prophetische Fähigkeiten aufweisen. Im übertragenen Sinne nennt man so die Menschen, die keinen praktischen Verstand haben, Tagträumer, Bücherwürmer und Habenichtse. Oder auch Idioten.
»Abends zündeten wir zur Beleuchtung Kienspäne in einem Halter an«
Der Kienspan ist ein seit der Steinzeit und in Dörfern noch bis ins 20. Jahrhundert verwendetes Beleuchtungsmittel. Petrow benutzt hier ein sehr altes und seltenes russisches Wort: »Swetez«
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