Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
Verwundete.
»Haben Sie Verotschka tatsächlich liebgewonnen?« fragte ich.
»Tatsächlich, sehr«, antwortete Nina Aleksejewna. »Sie hat einen unwiderstehlichen Charme. Ich mache alles, was sie will. Ich kenne sie jetzt wahrscheinlich besser als Sie. Das achtzehnte Jahrhundert hat nichts mit ihr zu tun. Vera ist lebendig, fröhlich, launisch. Sie haben nicht gesehen, wie sie mit den Fäusten fuchtelt und stampft, wenn sie im Spital Ärger hat, und wie sie danach lacht. Und mit Ihnen wird sie leise und traurig. Sie wirken beklemmend auf sie.«
»Das achtzehnte Jahrhundert war genauso lebendig wie unseres; Vera ist keine stilisierte Schäferin, in ihr lebt wirklich Manon Lescaut, sie hat nichts außer Liebe und Bereitschaft, Liebe entgegenzunehmen. Und ich wirke nicht beklemmend auf sie«, sagte ich.
In dieser Minute glaubte ich, Vera in einer entfernten Gartenecke zu sehen. Sie ging neben einem Mann; sie sah uns auch, blieb stehen und verschwand plötzlich. Vielleicht war sie es auch nicht. Bald kam uns ein hochgewachsener blauäugiger Junge im Soldatenmantel entgegen.
Als er neben uns war, grüßte er – nicht militärisch.
»Wer ist das?« fragte ich.
»Das ist Fedja, unser Koch«, antwortete Nina Aleksejewna.
»Veras Galan?« fragte ich schnell.
»Natürlich nicht«, sagte Nina Aleksejewna verlegen.
»Ich wirke nicht beklemmend auf Vera, sie ist mit mir unbefangen und echter als mit Ihnen«, sagte ich.
»Sie versuchen, sie immer wieder höher zu stellen, als es ihr entspricht, das schmeichelt ihr, und sie wird unnatürlich«, sagte Nina Aleksejewna.
»Ich glaube nun doch, daß Vera mich beiseite geschoben hat«, sagte ich.
»Wie können Sie es so verstehen ... ich meine, so denken? War sie etwa nicht begeistert, als Sie kamen?« sagte Nina Aleksejewna.
Auf dem Rückweg holte uns Vera ein. Den ganzen Abend wich sie mir nicht von der Seite. Alles war wie früher. Ich konnte mich für keine Sekunde von ihr trennen. Ich hielt ihre Hand und wandte den Blick nicht von ihr. Wir sprachen wie immer über nichts. Ich blickte sie an, um in ihrem Gesicht lesen zu können. Sie war bei mir. Die Vergangenheit, sogar das, was heute war – falls im Garten in der Tat etwas gewesen war –, hatte für Vera aufgehört zu sein. Die Zeit war wieder stehengeblieben.
Ich bekam ein Zimmer im selben Haus. Als alle eingeschlafen waren, kam Vera, sehr leise, zu mir; ich hatte noch nie so qualvoll auf sie gewartet wie in jener Nacht. Sie schien mir wieder erwachsen und streng. Und gegen Morgen wurde sie wieder zum zartgliedrigen Mädchen und schlief auf meiner Schulter ein.
Ich stand spät auf; Vera und Nina Aleksejewna waren bereits ins Spital gegangen. Am selben Tag sollte ich fahren. Nina Aleksejewna hatte sich schon am Abend von mir verabschiedet, und Vera hatte mir versprochen, daß sie noch kommen und mich zum Auto begleiten würde. Der Morgen war vorbei; die Vermieterin betrat das Zimmer. Als ich die Übernachtung bezahlte, sagte sie plötzlich:
»Ich will Sie warnen: Es ist gefährlich, eine junge Frau ohne Aufsicht zu lassen.«
»Warum?« fragte ich, ohne zu hören und zu verstehen.
»Heute haben Sie hier die Nacht verbracht, und gestern war ein anderer Soldat an Ihrer Stelle.«
»Wie können Sie es wagen, mir solche Abscheulichkeiten zu erzählen!« schrie ich mit solcher Wut, daß die Vermieterin im Nu verschwand. Aber das Wort war gefallen. Ich hatte den Beweis. Mir war so, als hätte ich nichts anderes erwartet, als hätte ich bereits am Vortag davon gewußt. Welch widerliche Schwäche meinerseits alles, was in der Nacht war! Ich erinnerte mich an Veras Heuchelei. Fedja der Koch war Veras Liebhaber. Im Garten hatte sie ihm über meine Ankunft Bescheid gesagt, damit er nicht käme. Ich wußte sehr wohl, daß das die Wahrheit war und nicht Klatsch. Die Nachricht hatte mich nicht betäubt, weil ich mich innerlich schon längst darauf vorbereitet hatte. Und doch, trotzdem hatte sie mich betäubt
.
Und davor, noch in Turdej, gab es einen Kosaken. Und vielleicht Aslamasjan,
dachte ich.
Als Vera kam, um mich zum Auto zu bringen, mußte ich mich zwingen, sie anzuschauen. Sie war zerstreut; ich glaubte, daß sie mich möglichst schnell loswerden wollte. Ich verabschiedete mich so von ihr, wie ich es geplant hatte, ohne mir etwas anmerken zu lassen, als wäre nichts passiert. Ich küßte sie sogar; trotzdem wurde der Abschied noch kälter, als ich gedacht hatte. Ich setzte mich ins Auto und blickte nicht zurück,
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