Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
benutzt werden können, sogar das Wort »Towarischtsch« (Genosse) ist nicht einmal in seiner Armeefunktion zu hören, was schier unmöglich ist: Nach der Heeresdienstvorschrift der Roten Armee hatte man Vorgesetzte mit »Towarischtsch« plus Dienstgrad anzusprechen.
Petrows Spitalzug fährt von irgendwo nach irgendwo, die Ortsnamen sind nur mit dem ersten Buchstaben bezeichnet, allein die Station Turdej wird vollständig genannt, die Station, wo die Wendung der Novelle zum tragischen Ende stattfindet. Die Arbeit der Ärzte und Schwestern sehen wir auch nicht, sie wird nur gelegentlich erwähnt. Selbst das Wort »Deutsche« finden wir hier nicht, der Krieg wird gegen einen namenlosen Feind geführt, über den wir nichts erfahren. Doch kann man nicht sagen, daß wir hier eine irreale, kafkaeske oder schematisierte Welt haben: Das ganze beschriebene Personal ist absolut lebendig. Mit sehr menschlichen Eigenschaften ausgestattet, sind alle deutlich als Sowjetmenschen der 30er bis 40er Jahre erkennbar. Man sieht sie und hört sie, diese Figuren, und nur sie »datieren« die Geschichte. Das macht einen besonderen Reiz dieser Erzählweise aus – die doppelte Reduktion erhält die Wahrheit.
5.
Kriegsromanze als persönliche Utopie
»Auf der Pritsche liegend, hatte ich mir die Liebe zu dieser sowjetischen Manon Lescaut ausgedacht. Ich hatte Angst davor, mir zu sagen, daß es nicht so war, daß ich mir nichts ausgedacht hatte, sondern tatsächlich alles vergessen und mich selbst verloren hatte und nur davon lebte, daß ich Vera liebte«. Sehr deutlich und klar gesteht der Erzähler sein Spiel: Einsam und belächelt, findet er unter den Zuggenossen ein menschliches Wesen, das in seine persönliche Utopie paßt, die Utopie des 18. Jahrhunderts – so weit wie möglich weg vom Jetzt.
Hier ist der Kern des inneren Konflikts: Sich selbst hält der sowjetische Offizier für unsowjetisch. Er
weiß
das von sich. Er lebt unter Barbaren, jetzt kämpft er mit ihnen zusammen gegen noch größere Barbaren, aber er ist etwas anderes. Er gehört zu einem »anderen«, nicht-sowjetischen Rußland. Doch er braucht Liebe, ein eigenes Leben, eine eigene, individuelle Utopie, und dafür macht er einen lebendigen, wirklichen, realen Menschen zum Spielball seiner Sehnsüchte und zum Spielzeug seiner persönlichen Mythen. Das kann nicht gut enden und endet tragisch.
Interessant: Als der Erzähler und Vera nach all den komischen und traurigen Szenen, Eifersuchtsattacken und schadenfrohen Reaktionen der Zugbesatzungsmitglieder endlich zusammenkommen, meldet sich der Krieg, also die Realität, zum ersten Mal: »Der Betriebsbahnhof hatte einen französischen, irgendwie bretonisch klingenden Namen: Turdej. Auf einem benachbarten Hügel stand das von der feindlichen Invasion geplünderte russische Dorf Kamenka.« An diesem Punkt beginnt die Zerstörung der utopischen Welt des Erzählers.
Die Manon Lescaut von Turdej
ist
anfänglich eine Kriegsutopie, wenn nicht gar eine Kriegsidylle. Aber nicht allein eine individuelle Utopie des Wsewolod Petrow. Vielen Menschen ähnlicher Abstammung und Biographie, die der vorrevolutionären Kulturschicht entstammten und im Sowjetrußland ein »Doppelleben« führten, schien der Krieg eine reinigende Quelle zu sein, die vom Sowjetrußland alles »Sowjetische« wegspülen würde.
Sie glaubten plötzlich – und Wsewolod Petrow drückt dieses Gefühl sehr plastisch aus –, daß
Rußland
wieder da sei, einfach Rußland: Soldat, Frau, Erde, Liebe, Tod.
Sie glaubten, daß man endlich nicht gegen
sie
Krieg führte, sondern gegen einen »äußeren Feind«. Daß das Volk im Wesen dasselbe geblieben sei (wie es gewesen war, wenn man nach den Büchern der Tolstois, Turgenjews und Leskows urteilte) und die ganze Schmutzschicht der Sowjetzeit durch den Krieg abgewaschen wäre. Daß sie wieder – nein, nicht wieder, sondern eigentlich zum ersten Mal in der Geschichte! – allein miteinander geblieben seien unter dem russischen Himmel: das Volk und sie, die russischen Kulturmenschen.
Vielleicht ist das die Quelle des eigenartigen und rätselhaften Glücksgefühls, das in dieser Novelle tief und regelmäßig atmet. Aber diese Novelle spricht auch davon, daß es auf Dauer nicht möglich ist, in einer Utopie zu leben. Vera-Manon stirbt, mit ihr stirbt die Illusion, daß man die Realität ignorieren kann.
6.
Was ist und wo liegt Turdej
Turdej ... In den Ohren des Erzählers klingt das französisch:
Tourdeille
... Niemand
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