Die Marionette
locker aufgestecktes Haar. Sie strich mit den Fingern über die weißlackierte Reling. In der vorigen Woche hatte sie hier mit Eric gesessen. Sie hatten anderthalb Tage Zeit füreinander gehabt, bevor sie anfangen musste zu arbeiten, und er weitergeflogen war nach Beirut, wo er Martinez treffen wollte. Es brannte in der arabischen Welt, und auch wenn er noch nicht wieder vollkommen genesen war, zog es ihn mit aller Macht in das Zentrum der politischen Umstürze. Es waren gute Tage gewesen.
Ihre Finger schlossen sich fester um die Reling, und sie versuchte, ihre Gedanken auf den vor ihr liegenden Arbeitstag zu richten, während das jenseitige Ufer unaufhaltsam näher kam und mit ihm die weißen Gebäude der UNO , die zwischen den Bäumen hindurchschimmerten. Aber es gelang ihr nicht. Wie schon so oft in den letzten Wochen drängte sich ungewollt die Erinnerung an ihren letzten Morgen im Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz in ihre Gedanken, und sie erinnerte sich an den Geruch von Desinfektionsmitteln, der in dem eintönigen Flur gehangen hatte, als sie nach kurzem Klopfen die Tür zu Erics Krankenzimmer geöffnet und unerwartet Martinez’ Stimme gehört hatte, sein hartes Englisch.
Der Amerikaner stand neben Mayers Bett, verdeckte den Blick zur Tür. Keiner der beiden Männer bemerkte sie, ahnte auch nur, dass sie da war.
»Ich habe gehört, dass es kein Soldatenbegräbnis für Katja gab«, hörte sie Eric dann jedoch sagen.
»Nein«, erwiderte Martinez zögernd. »Es war eine zivile Beerdigung.« Es war deutlich, dass er nicht über die einsame und deprimierende Zeremonie sprechen wollte, die wenigen Menschen, die so verloren im Regen an dem offenen Grab gestanden hatten. Auch Valerie hatte mit niemandem darüber gesprochen, doch Eric schien bereits davon erfahren zu haben. Sie spürte die plötzliche Spannung zwischen den beiden Männern.
»Du hattest von Beginn an den Auftrag, sie zu töten«, bemerkte Eric.
Valerie stockte der Atem, sie glaubte, nicht richtig zu hören, doch dann erinnerte sie sich an Martinez’ Besuch in der amerikanischen Botschaft in Berlin. Seinen Zorn, weil Katja ihnen in Calw entkommen war. Und seinen unbedingten Wunsch, Valerie bei ihrem Treffen mit der Ex-Soldatin zu begleiten. Ein gezielter Schuss. Wieder sah sie Katja fallen. Sah die Hand, die aus der Tasche rutschte, die Finger, die sich öffneten. Es war völlig gleichgültig gewesen, was sie mit Katja geredet hatte, sie hatte Martinez nur zu ihr führen sollen.
»Du solltest sie töten, und das war der einzige Grund, warum du nach Deutschland gekommen bist«, wiederholte Eric, und Valerie entging nicht der bittere Unterton in seiner Stimme. Martinez hatte sie
alle
benutzt.
»Du weißt, warum es sein musste«, erwiderte der Amerikaner.
»Sie war ein Sicherheitsrisiko, wusste zu viel, aber …«
»Es war ein gemeinsamer Beschluss unserer beider Regierungen«, sagte Martinez ruhig.
Trotz der Verbände, die ihn hinderten, und der Schmerzen, die es ihm bereiten musste, fuhr Eric in seinem Bett hoch. »Was …?«
Martinez drückte ihn sanft zurück. »Sie kennen deine Vergangenheit. Du hättest alles getan, um sie da lebend rauszuholen«, fiel er Mayer ins Wort. »Sie hätte geredet. Über alles. Es war nur eine Frage der Zeit. Deshalb haben sie mich beauftragt.«
Valerie sah, wie Eric resigniert die Augen schloss.
Natürlich wusste er, dass der Fall Rittmer hinter den Kulissen die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA nicht unerheblich belastet hatte. Die Amerikaner hatten sich ungefragt in innerdeutsche Angelegenheiten gemischt. Menschen waren gestorben. Im Gegenzug hatten die Deutschen den Tod eines amerikanischen Senators zu verantworten. Ein Wirtschaftskrieg, für den Katja ihr Leben lassen musste, damit die Beteiligten das Gesicht wahren konnten. Sie hatten die Soldatin benutzt wie eine Marionette.
»Wir wissen beide, dass sie eine besondere Frau und eine ausgezeichnete Soldatin war«, sagte Martinez. »Aber es gab keinen Platz mehr für sie auf dieser Welt. Sie hätten sie eingesperrt in eine Klinik, mit Medikamenten vollgepumpt. Dort wäre sie auch gestorben. Nur qualvoller und viel langsamer.« Das Schweigen, das Martinez’ Worten gefolgt war, war erdrückend gewesen.
Das langgezogene Heulen der Schiffssirene brachte Valerie zurück in die Gegenwart. Ein Motorboot kreuzte den Weg der Fähre, und sie beobachtete, wie sich die weiße Gischt, die es aufwarf, allmählich wieder in den Wellen
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