Die Marionette
einen Notruf absetzen.
Der Sprengsatz hatte einen riesigen Krater in die Straße gerissen. Schutt und Geröll bedeckten die Fahrzeuge des Konvois. Sie stemmte eine Tür auf. Der Laptop am Armaturenbrett funktionierte noch. Schweiß tropfte von ihrer Stirn auf das Gerät, während sie den Code eingab. Den einen Code, den sie alle fürchteten. Sie wischte sich über das Gesicht und blickte mit zusammengekniffenen Augen über die zerstörte Straße. Würde die Einsatzleitung im Stützpunkt die amerikanischen Hubschrauber zur Bergung anfordern oder würden sie mit Fahrzeugen kommen? Dann konnte es Stunden dauern. Sie ahnte nicht, dass genau zu diesem Zeitpunkt, nur sechzig Kilometer entfernt, Soldaten einer anderen Einheit ebenfalls in einen Hinterhalt geraten waren, sich ein verzweifeltes Feuergefecht mit ihren Angreifern lieferten. Ihr Notruf wurde aus unerfindlichen Gründen diesem Trupp zugeordnet.
Katja warf einen letzten Blick über die Straße. Sie musste wieder raus, die anderen finden. Sie konnte, durfte nicht die einzige Überlebende sein.
Sie hörte das leise Wimmern erst, als sie schon fast bei ihnen war. Die beiden lagen zusammen. Übereinander, wie lieblos weggeworfene Puppen. Sie waren bewusstlos, ihre Körper befanden sich im Schockzustand, ausgelöst durch Blutverlust und Schmerz. Ein dritter lag in ihrer Nähe, starrte sie an, die Augen weit aufgerissen, die Hände auf den Bauch gepresst.
»Ruhig, Mirko«, flüsterte sie. »Ich bin es, Katja.«
Er erkannte sie nicht.
Sie öffnete den medizinischen Notfallkoffer, den sie aus dem Wagen mitgenommen hatte. Mirkos Atem ging schneller. Sie biss sich auf die Lippen, als sich sein Griff lockerte und fahlweiße Gedärme zwischen seinen Fingern hervorquollen. Sie ließ das Verbandszeug links liegen, tastete nach der Oberschenkeltasche seiner Uniformhose und zog den Autoinjektor heraus. Sie versuchte, flach zu atmen, als der Gestank seiner Eingeweide sie erreichte. Hastig presste sie das Instrument auf seinen Oberarm, und die Nadel schoss durch den Uniformstoff in seine Haut.
»Halt durch«, flüsterte sie. »Lass nicht los.« Sie wusste nicht, ob Mirko sie hörte. Sein Stöhnen besaß nichts Menschliches mehr. Sie verabreichte ihm eine zweite Dosis aus ihrem eigenen Injektor. Endlich begann das Morphin zu wirken. Katja strich ihm über die Wange, während er langsam wegdämmerte. Es war noch keine zwei Tage her, dass dieser Mann ihr die Bilder seines Sohnes gezeigt hatte, eines winzigen, schrumpeligen Säuglings, der noch die Male der Geburt trug. Sie erinnerte sich an das Leuchten und den Stolz in seinen Augen, und ihre Finger verharrten unwillkürlich auf seiner Haut, auf der sich Schweiß und Staub zu einem grauen Film vermischt hatten. Sie spürte der Wärme darauf nach, dem letzten Hauch von Leben. »Wenn ich dich nur retten könnte«, flüsterte sie, »damit du ihn wenigstens einmal selbst halten könntest.«
Mirkos Atem wurde schwächer. Seine verkrampften Finger lösten sich, gaben den Blick frei auf die zerrissene Bauchdecke, Blut und das Knäuel der Gedärme, während seine Hände langsam an seinen Seiten herabglitten. Katja wandte sich schaudernd ab, nicht ahnend, dass sie sich nur zu bald wünschen würde, an seiner Stelle gestorben zu sein.
Die Sonne erreichte ihren höchsten Stand und brannte auf sie nieder. Die Luft flirrte vor Hitze, schmerzte in ihren Augen. Waren da Schatten am Rand ihres Blickfelds? Sie entsicherte ihr Gewehr. Im selben Augenblick schlug ein Schuss neben ihr im Sand ein. Ein plötzlicher Schlag, ein glühender Schmerz in ihrer Schulter. Blut färbte ihre Uniform dunkel.
***
Ein Stabsarzt beugte sich über sie. »Können Sie mich hören?«
Sie nickte wortlos. Ihre Kehle war staubtrocken, wie immer nach einer Narkose. Sie blinzelte in das helle Licht der Deckenbeleuchtung ihres Krankenzimmers, bemerkte aus dem Augenwinkel den Tropf neben ihrem Bett, das Blinken der Geräte, an die sie angeschlossen war.
»Ich hab Ihnen zwei Andenken mitgebracht.« Der Mediziner legte etwas in ihre Hand, schloss ihre Finger darum. Katja spürte kaltes schweres Metall. Die Geschosse aus ihrer Schulter. Ihre Trophäen. Ein Andenken für die Überlebenden. Sie hatte überlebt. Und für einen Augenblick verdrängte die Erleichterung darüber die Trauer über die gefallenen Kameraden. Doch der Augenblick währte nur kurz.
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15. Mai
S ie schrak aus einem unruhigen Schlaf voller düsterer Träume auf. Heftig ein- und
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