Die Marionette
Mayers Blick ließ ihn verstummen.
»Ich wäre gern einen Moment mit ihm allein«, sagte Mayer.
Der Arzt zögerte, verließ dann aber doch den Raum. Mayer beobachtete, wie sich Chris’ kräftiger Brustkorb im Rhythmus der Beatmungsmaschine hob und senkte. Am nächsten Tag sollte er nach Deutschland ausgeflogen werden. Es würden weitere Operationen folgen, Rehabilitationsmaßnahmen. Die Schmerzen würden bleiben. Chris hatte keine Familie, keine Kinder, für die es sich lohnte, weiterzukämpfen. Weiterzuleben. Seit mehr als fünfzehn Jahren war er in den Krisengebieten der Welt zu Hause. Mayer wusste nur zu gut, wie fremd einem das Leben in Europa werden konnte, wie schwer es war, sich wieder einzugliedern in die Normalität der Zivilisation.
Auf einer Ablage neben dem Bett lagen Chris’ persönliche Sachen. Mayer nahm das Mobiltelefon. Es war ausgeschaltet. Darunter ein in Leder gebundenes Notizbuch. Auf der Innenseite des Einbandes fand er zu seiner Überraschung ein Foto von Katja. Mayer betrachtete es nachdenklich. Das kurze blonde Haar fiel ihr in eigenwilligen Locken ins Gesicht, ihr Blick aus den leuchtend blauen Augen strahlte ungebrochene Energie aus, so ganz anders als bei ihrer letzten Begegnung vor wenigen Stunden. Aber nun verstand er auch, warum. Nachdem er das KSK verlassen hatte, war in den vergangenen Jahren also mehr aus der Freundschaft geworden, die Chris und Katja verband. Er musste herausfinden, wie eng die Beziehung der beiden tatsächlich war. Er blätterte das Notizbuch durch und las die letzten Einträge. Dann ließ er es zusammen mit dem Telefon in seine Tasche gleiten. Chris würde es bis zu seinem Abtransport am folgenden Morgen nicht vermissen, und länger würde Mayers Team vor Ort zur Auswertung nicht benötigen.
Kurz darauf verließ Mayer das Klinikgebäude der Bundeswehr. Auf dem Weg zum Hubschrauberlandeplatz zog er einige Blicke auf sich, schon allein deswegen, weil er keine Uniform trug. Sein Pilot wartete bereits auf ihn. Mayer warf einen letzten Blick auf das Feldlager, das schnell unter ihnen verschwand, als der Hubschrauber an Höhe gewann und Kurs auf Kabul nahm. In brauner Eintönigkeit glitt die afghanische Landschaft vorbei. Vor ihnen erhob sich das zentrale Gebirgsmassiv des Hindukusch bis an die pakistanische Grenze. Kabul lag auf einer Hochebene in fast zweitausend Metern Höhe. Im Nordosten schlossen sich schroffe, schneebedeckte Gipfel an, türmten sich mit bis zu siebentausend Metern in den Himmel, eine unwirtliche Gegend, die sich nicht beherrschen ließ und unzählige Rückzugs- und Versteckmöglichkeiten bot. Die Afghanen waren ein zähes Volk, seit Generationen im Widerstand geübt. Schon die Mongolen waren bei der Eroberung dieses Landes gescheitert und nach ihnen alle anderen, die es versucht hatten. Auch der Einsatz der ISAF -Truppen dauerte nun schon fast zehn Jahre an, und die Zahl der Opfer war in den letzten Jahren rasant angestiegen. Und mit ihnen die Kriegsmüdigkeit. Die Zeiten, in denen die Bevölkerung den Soldaten auf ihren Patrouillen zuwinkte, waren längst vorbei. Nicht einmal mehr die Kinder standen am Straßenrand. Die Menschen zogen sich zurück, Misstrauen und Angst bestimmten den Alltag, und die Zahl der Anschläge und Hinterhalte stieg kontinuierlich. Chris’ Schicksal, so entsetzlich es sein mochte, war nur eins von vielen infolge eines Krieges, der nicht zu gewinnen war. Dennoch kam dieser letzte verheerende Hinterhalt einer Zäsur gleich.
»Ich gehe davon aus, dass Sie meinen Bericht bereits gelesen haben.« Mit diesen Worten eröffnete Mayer die kleine und exklusive Runde, die sich in der Deutschen Botschaft in Kabul in dem abhörsicheren Raum eingefunden hatte. Der Botschafter saß ihm gegenüber, ein großer, schlanker, graumelierter Mann, der auf dem diplomatischen Parkett der Welt seit vielen Jahren zu Hause war. Die beiden Stabsoffiziere der Bundeswehr, die rechts und links von ihm Platz genommen hatten, wirkten dagegen unbeholfen und klobig. Alle drei bestätigten Mayers Frage.
»Unsere Einheiten sollten Nachschubwege sichern«, fuhr Mayer fort. »Wir haben im Norden in den vergangenen Wochen immer wieder Probleme gehabt. Aber diese beiden Hinterhalte waren besser geplant und vorbereitet als alle bisherigen. Aus diesem Grund hatten sie auch solch eine verheerende Auswirkung.«
»Wir haben zunehmend Probleme mit der neuen Führungsstruktur der Taliban. Die Planung und Kommunikation zwischen den einzelnen Gruppen hat
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