Die Marionette
war, das er ihr vermacht hatte.
»Wie kommen die Taliban an deutsche Ausrüstung?«, fragte sie bitter.
Er blieb ihr die Antwort schuldig, und sie fragte sich, ob er wirklich so ahnungslos war, wie er sich gab.
»Wir sind in eine Falle gelaufen«, sagte sie anklagend. »Unsere Soldaten hätten da draußen nicht sterben müssen, wenn wir nur gewusst hätten, was uns erwartet.« Sie rang plötzlich mit ihrer Fassung. »Wenn wir besser ausgerüstet gewesen wären und rechtzeitig Hilfe bekommen hätten.«
Sein Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass er wusste, wovon sie sprach, doch bevor er etwas sagen konnte, erschütterte eine Detonation das medizinische Rettungszentrum. Gleich darauf heulten die Sirenen. Er trat ans Fenster, schob die Jalousie auseinander. »Berlin kann nach den letzten Anschlägen nicht mehr über die Missstände vor Ort hinwegsehen. Sie werden in Ausrüstung und Ausbildung investieren müssen. Das Umdenken hat längst begonnen …«
Seine Stimme verlor sich. Die Detonation dröhnte in ihren Ohren, jagte ein Zittern durch ihren Körper und beschleunigte ihren Puls. Das Krankenzimmer löste sich auf. Sengende Sonne, Staub, der Geruch von Blut … Sie atmete dagegen an, zerdrückte die Schachtel mit den Projektilen in ihrer Faust … So viele Tote …
»… und du wirst nach Deutschland zurückgeschickt werden.« Die Bilder verblassten, verdrängt von Mayers Stimme. Er sah noch immer zum Fenster hinaus.
Ihr Mund war trocken. Hatte er etwas bemerkt? Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen. Räusperte sich. »Ich … bin bereits darüber informiert worden«, erwiderte sie und stellte erleichtert fest, dass ihre Stimme ihr wider Erwarten gehorchte.
Er wandte sich vom Fenster ab und vergrub seine Hände in den Taschen seiner Hose. Noch immer verriet sein Gesicht nichts, verbarg er seine Gedanken und Gefühle hinter jener glatten Maske, die schon seine Stärke gewesen war, als sie noch zusammen in einer Einheit dienten, und gerade deswegen wusste sie, dass er noch nicht fertig war, dass da noch etwas wartete, das sie beide wohlweislich bislang nicht angesprochen hatten. Sie wappnete sich, wünschte sich, er würde schweigen.
»Du weißt von Chris?«, fragte er jedoch wie erwartet.
Diese Frage aus seinem Mund zu hören, seinen Blick zu spüren, schmerzte noch mehr, als sie befürchtet hatte. Sie biss die Zähne zusammen, nickte unmerklich und konzentrierte sich auf einen Punkt an der Wand hinter ihm. Chris hatte den zweiten Konvoi begleitet, der zeitgleich in einen Hinterhalt geraten war. Sechs Tote und vier Schwerverletzte. Sie verbot sich, daran zu denken, was das bedeutete. Wie diese Nachricht all ihre Träume, all ihre Hoffnungen mit einem Schlag zerstört hatte.
***
Mazar-i-Sharif, Afghanistan
Eric Mayer versuchte, nicht auf das Bett zu schauen, auf die fehlende Wölbung unter der Decke. Es war ein gespenstischer Anblick, wenn ein menschlicher Körper kurz unterhalb der Hüfte endete.
»Es werden inzwischen hervorragende Prothesen hergestellt, es hat gerade im Bereich der medizinischen Hilfsmittel in den vergangenen Jahren eine rasante Entwicklung gegeben.« Der behandelnde Arzt war um ein Lächeln bemüht, einen zuversichtlichen Tonfall. Die Mediziner hatten Christian Frank in ein künstliches Koma versetzt.
»Natürlich«, erwiderte Mayer höflich. Es fiel ihm schwer, sich Chris auf Krücken vorzustellen. Im Rollstuhl. In seiner Erinnerung lebte ein anderer Mann, einer, der auf Zypern am Strand Sirtaki tanzte, sturzbetrunken, mit einer Flasche Raki in der Hand, und der dennoch jeden Schritt in perfekter Harmonie mit der immer schneller werdenden Musik auf den Boden setzte. Es war ihr letzter gemeinsamer Einsatz gewesen. »Wenn ich jemals alt werde«, hatte Chris damals gesagt, »werde ich mich hier zur Ruhe setzen.« Er hatte genügend Lebenslust für eine ganze Kompanie besessen. Jetzt lagen seine sehnigen braunen Hände reglos auf dem weißen Laken. Seine Augen waren geschlossen, und Mayer fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn sie das auch für immer blieben.
»Eins der Fahrzeuge ist auf ihn gekippt, hat ihn eingeklemmt und seine Oberschenkelknochen völlig zerquetscht. Die Amputation war die einzige Möglichkeit, sein Leben zu retten«, bemerkte der Arzt, der sich vermutlich nicht das erste Mal genötigt sah, Hoffnung zu verbreiten, wo es keine gab. »Er wird lernen, mit seinem Handicap zu leben. Er hat einen starken Willen. Sonst wäre er längst tot.«
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