Die Markgräfin
rechten stützte er sich an der buckligen Seitenwand ab. Er füllte beinahe den gesamten Gang in Höhe und Breite aus, was ihm ein gewisses Unbehagen bereitete. »Gott sei Dank leide ich nicht unter Platzangst«, dachte er. Irgendetwas kam ihm seltsam vor, er wusste nur nicht, was es war. Immer wieder blieb er stehen und leuchtete um sich. Der Stollen wirkte auf den ersten Blick nicht besonders verfallen oder brüchig. Im Lichtkegel sah er an manchen Stellen ein Gewirr von Wurzeln, die sich ihren Weg durch den Stein gebahnt hatten – daraus war zu schließen, dass der Tunnel relativ dicht unter der Oberfläche verlief. In regelmäßigen Abständen waren dicke Baumstämme mit Querbalken als Stützen eingezogen. Das Holz war nass und mit unzähligen Pelzchen weißen Schimmels übersät, erwies sich aber als ziemlich solide, als Haubold vorsichtig mit dem Fuß dagegenstieß. Die Wände waren feucht und glitschig und an vielen Stellen bemoost; von der Decke tropfte es. Es roch leicht modrig. Ab und zu entdeckte der Kastellan kleine schwarze Molche, die auf Boden und Wänden herumhuschten. Überall krabbelte und kroch undefinierbares Kleingetier.
Haubold trat auf etwas Weiches und stieß unwillkürlich einen kleinen Schrei aus. Igitt! Er beschloss, lieber nicht nachzusehen, was das gewesen war.
Stetig ging es abwärts, und mehrmals wechselte der Gang die Richtung. Er musste demnach im Zickzack durch den Burgberg bis nach unten führen. Auch der Neigungswinkel der Treppe veränderte sich ständig. Der Kastellan versuchte sich vorzustellen, wie der Weg verlief, aber nach mehreren Richtungswechseln in unregelmäßigen Abständen hatte er die Orientierung verloren. Er entschied sich dafür, eine kleine Pause zu machen, und setzte sich auf einen Treppenstein. Wegen der Enge des Raumes konnte er den Rucksack nur mühsam abnehmen. Er öffnete eine Coladose und verspeiste den ersten seiner vier Schokoriegel. Während er kaute, ging ihm endlich ein Licht auf. Irgendetwas war ihm dauernd komisch vorgekommen; jetzt wusste er es: Die Treppe war wie neu! Normalerweise waren alte Stufen in der Mitte abgenutzt, sie wiesen Gebrauchsspuren auf, die Kanten waren gerundet und abgetreten. Diese Stufen hingegen sahen aus, als ob noch nie ein Mensch darüber gelaufen wäre. Die Theorie vom Geheimgang begann sich in Haubolds Kopf zu bestätigen. Vielleicht war er gar der Erste, der seinen Fuß hier hereingesetzt hatte! Er fühlte sich wie eine späte Reinkarnation aus Howard Carter und Heinrich Schliemann – das Grab Tutenchamuns und Troja waren zugegebenermaßen
ein bisschen weltbewegendere Entdeckungen, aber ein »heimlicher Gang« auf der Plassenburg war schließlich auch nicht zu verachten und genügte Haubolds Ehrgeiz vollkommen! Stolz und glücklich grinste er vor sich hin.
Plassenburg, Frühjahr 1548
Es war ein herrlicher, eiskalter Aprilmorgen. Die Sonne schien noch ohne wärmende Kraft und ließ die bereiften Weinstöcke und Obstbäume am Schlossberg glitzern. Die Dächer der Stadt leuchteten weißsilbern, als die ersten Kanzleidiener und diejenigen vom Burggesinde, die in Kulmbach wohnten, sich an den steilen Anstieg zum Schloss hinauf machten. Sobald die Glocken zur siebten Stunde läuteten, würde droben das Tor aufgehen, um sie einzulassen. Heute hatte sich dem kleinen Zug noch der Hirte vom Kulmbacher Viehhof mit zwei Ochsen und einem Kälbchen angeschlossen, zusammen mit einem der Stadtmetzger, der jedes Mal zum Schlachttag mit aufs Schloss musste, um Würste und Presssack zu machen.
Als das Grüppchen den Äußeren Vorhof durchquerte, herrschte dort großes Getümmel. Vor zwei Wochen waren die italienischen Bauarbeiter eingetroffen, die am Ausbau der Buchbergbastei weiterarbeiten
sollten. Die Bausaison hatte begonnen, sobald der Boden nicht mehr hart gefroren war. Jetzt hatten sich die Festungsbauspezialisten aus dem Süden wieder in ihren alten Unterkünften im Vorhof eingerichtet, und auch die deutschen Bauarbeiter und Tagelöhner hatten sich eingefunden. Alle traten gerade zur Morgenzählung an.
Auf einem hölzernen Podest stand der italienische Baumeister Guerini, ein winziges, beinahe zwergenhaftes Männlein, dürr und dünnbeinig. Was ihm an Größe und Umfang fehlte, machte er durch Prachtentfaltung wieder wett. Auf seinen exakt gescheitelten, langen schwarzen Haaren saß ein fellbesetztes braunes Barett, farblich passend zum Samtumhang, der mit Stickereiornamenten geschmückt und mit Otterfell verbrämt war. Seine
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