Die Markgräfin
Wallgraben ging. Das aber, so viel war dem Kastellan klar, konnte keinesfalls derselbe
Gang sein, den sie gerade entdeckt hatten. War der nun gefundene Gang beim Wiederaufbau angelegt worden? Oder war er älter? Dafür sprach einiges, denn unterhalb des Ostflügels hatte sich auch ein guter Teil älterer Bausubstanz erhalten, die vielleicht vom Ausbau der Burg durch Albrecht Alkibiades stammte. Konnte es sich also wirklich um einen alten Fluchtgang handeln? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Man musste einsteigen und den Tunnel weiterverfolgen.
Haubold holte sich aus der Süßigkeitenschublade eine Tafel Noisette-Schokolade. Jetzt, am Freitagnachmittag, hatte es keinen Sinn, bei der Bayerischen Schlösserverwaltung anzurufen und Instruktionen einzuholen, das ging erst wieder montags. Haubold hatte aber keineswegs vor, mit der Erforschung des Gangs so lange zu warten. Er brannte darauf, in das Loch einzusteigen. Natürlich, das war nicht ungefährlich – aber er war einfach zu gespannt. Ein Geheimgang auf »seiner« Burg! Was für eine Sensation! Schon als Kind, zu der Zeit, als er noch Schwabs »Schönste Sagen des klassischen Altertums« verschlungen hatte, war sein größter Wunsch gewesen, Archäologe zu werden. Und je länger der Kastellan auf seinem Sofa saß, desto aufgeregter wurde er, ja, er fieberte schließlich vor Neugier, Abenteuerlust und Forscherdrang. Jetzt hatte er seine Chance!
Zwanzig Minuten später marschierte der Kastellan mit Rucksack und schweren Schuhen die Auffahrt zum Hochschloss hinunter. Ihm war eingefallen, dass er immer noch den Nachlass seines Großonkels Franz im Keller hatte. Bis zu seinem plötzlichen Tod vor vier Jahren hatte er in einem winzigen Häuschen in Waischenfeld in der Fränkischen Schweiz gelebt. Von Beruf war er Schuster gewesen, aber seine lebenslange Leidenschaft war die Höhlenforschung. Er kannte jede auch noch so winzige Höhle in Oberfranken und hatte sich als Führer für alle möglichen Forschungsgruppen seit den fünfziger Jahren einen Namen gemacht. Haubold hatte ihn als Kind öfters besucht und war mit ihm voller Begeisterung in allerlei Tropfsteinhöhlen herumgeklettert. Daran hatte sich der Onkel offenbar erinnert und ihn testamentarisch bedacht – mit seiner kompletten Höhlenforscherausrüstung.
Besagte Ausrüstung bestand aus einem alten, fleckigen Leinenrucksack mit fachmännisch zusammengestelltem Inhalt: einer Karbidlampe mit mehreren Brennstoffrollen, einer Schachtel billiger gelber Kerzen, einem Zehnerpäckchen Streichhölzer, einem Armeefeuerzeug aus dem Zweiten Weltkrieg, einem offenen Verbandspäckchen, zwei Schuheinlegesohlen, einem Petroleumkocher und einer Bundeswehr-Notfallration aus dem Jahr 1972 . Am Rucksack hingen ein kleiner Pickel, eine Klappschaufel und 20 Meter morsches Seil.
Als der Kastellan die Sachen aus der hintersten Ecke des Kellerschranks hervorgezerrt hatte, hielt ihn nichts mehr. Er warf die Notfallration, die Einlegesohlen und das Seil weg und packte stattdessen das Handy, drei Dosen Cola, eine Taschenlampe mit Ersatzbatterie und mehrere Schokoriegel ein, zog seine Bergschuhe an und machte sich auf den Weg.
Die erste Schwierigkeit ergab sich bereits an der Einstiegsstelle: Das Loch war zu schmal. Wie sich Haubold auch wand und quetschte, er brachte seine Leibesfülle nicht durch den Spalt. Doch wer wollte deshalb aufgeben! Der höhlenbewährte Pickel von Onkel Franz schaffte Abhilfe, und nach einer Viertelstunde war es Haubold möglich, sich unter gefährlich anmutenden Drehungen und Verrenkungen durch die Öffnung zu manövrieren.
Drinnen war es stockfinster. Der Kastellan schaltete seine Taschenlampe ein und versuchte, im Lichtstrahl zu erkennen, wie es weiterging. So viel er sehen konnte, war die Treppe ziemlich unversehrt und der Gang relativ frei. Ein echter Glücksfall! Der Tunnel war offenbar nur an der Stelle zerstört, wo die Mauer eingefallen und Haubold eingestiegen war. Oben und seitlich war nackter Fels. Haubold sah die jahrhundertealten Spuren, die das Schlageisen hinterlassen hatte: Lauter schräg nach unten verlaufende Riffel nebeneinander im Abstand von zwei, drei Zentimetern. Er tastete sich ganz langsam die Stufen nach unten.
Dabei musste er immer wieder den Kopf einziehen und leicht gebückt gehen. Ihm wurde unangenehm bewusst, dass früher nun mal nicht für Menschen seiner Größe gebaut worden war.
Der Abstieg war mühsam. Haubold hielt die Taschenlampe in der linken Hand, mit der
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