Die Markgräfin
uralte Aktentasche.
Kleinert runzelte missbilligend die Stirn und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Hatten wir nicht halb elf vereinbart, Fräulein, äh, Böhm?«
Tanja Böhm schmiss ihre Sachen mit Schwung auf einen Stuhl und schaute ihn mit unschuldigem Blick an. »Ja, schon, aber ich musste noch was Dringendes erledigen.«
»Ach so!« Kleinert beherrschte sich. »Na, dann grüß Gott, nehmen Sie mal Platz. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Das Mädchen fläzte sich in den Besuchersessel, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Strubbelfrisur und begann zu erklären. »Also, ich bin in der Kollegstufe und habe die Leistungskurse Geschichte und Wirtschaft/Recht. Ich muss jetzt langsam anfangen,
meine Facharbeit zu schreiben, und habe mir das Thema ›Die Todesstrafe im Mittelalter am Beispiel Kulmbach‹ ausgesucht.«
Kleinert zog spöttisch eine Augenbraue hoch »Wie kommen Sie denn auf so was Düsteres?«
»Ganz einfach: Mein Vater ist Richter am Amtsgericht, ich bin aktiv bei Amnesty International und will später mal Jura oder Rechtsgeschichte studieren. Das Thema interessiert mich einfach.«
»Hm.« Kleinert überlegte. »Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Meines Wissens existieren keine konkreten Quellen über Strafprozesse und Urteile des Kulmbacher Halsgerichts für die Zeit vor 1553 . Ist vermutlich alles im Bundesständischen Krieg verbrannt.« Er hob entschuldigend die Hände.
»Ach so.« Die Rothaarige schob schmollend die Unterlippe vor. »Ja, so ein Mist, was mach ich denn dann?«
»Langsam, langsam. Was ich allerdings für Sie hätte, wäre das ›Ordre-Buch für Scharfrichter 1555 bis 1603 ‹. Eine feine Sache, genau das, was Sie suchen, allerdings eben für eine spätere Periode. Können Sie nicht Ihre Arbeit über die Todesstrafe in der Frühen Neuzeit schreiben?«
Tanja Böhms Gesicht hellte sich wieder auf. »Das geht auch. Ich muss halt meinem Lehrer Bescheid sagen, aber der hat sicher nix dagegen, der ist in Ordnung.«
»Na, dann hole ich Ihnen mal das Buch. Sie können derweil nebenan im Benutzerzimmer Platz nehmen.«
Kleinert öffnete einen der beiden modernen Temperierschränke, die er erst im letzten Jahr hatte anschaffen dürfen, und zog mit sicherem Griff einen kleinen, unscheinbar in Schwarz gebundenen Band mit der Kennzeichnung »Rep. 213 , Nr. 57 « heraus. Seine Laune hatte sich noch immer nicht maßgeblich gebessert, aber immerhin freute er sich schon auf das dumme Gesicht der Rothaarigen, wenn sie versuchen würde, die Schrift des sechzehnten Jahrhunderts zu lesen. Mit Archivbenutzern, die zum ersten Mal kamen, war es immer das Gleiche. Sie kamen alle in der fröhlichen Überzeugung, schnell mal etwas nachlesen zu können. Erst waren sie zutiefst verblüfft, wenn sie die Schrift aus früheren Zeiten sahen, und dann völlig frustriert, weil sie absolut nichts entziffern konnten.
»So, bitte schön, das ›Ordre-Buch für Scharfrichter‹. Schauen Sie sich’s in Ruhe durch. Wenn Sie eine Frage haben, ich bin nebenan im Büro.«
Im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um. Das Mädchen hatte die erste Seite aufgeschlagen und machte ein Gesicht, als ob sie gerade fürchterliche Zahnschmerzen bekommen hätte. Kleinert hörte ein deutlich und mit Inbrunst geflüstertes »Oh, Scheiße!«
Innerlich kichernd wartete der Archivar eine geschlagene Viertelstunde, bevor er wieder ins Benutzerzimmer ging. Die Schülerin hockte mit ziemlich unglücklicher Miene über dem aufgeschlagenen Buch, den Kopf in beide Hände gestützt.
»Na, wie geht’s voran?«, fragte Kleinert voller Häme.
Sie sah ihn an wie ein waidwundes Reh. »Ich glaub, ich lass das wieder sein, Herr Kleinert. Ich hab das halbe Buch durchgeblättert und kein Wort entziffern können. Das kann doch kein vernünftiger Mensch lesen, oder?«
»Och«, der Archivar zuckte mit den Schultern, »bloß so Leute wie ich.«
Er setzte sich mit einem gottergebenen Schnaufer auf den freien Stuhl neben dem Mädchen und zog das Buch in die Mitte. »Also, fangen wir mal an. Hier stehen nacheinander die Einträge über die einzelnen Kriminalfälle, drüber immer das Datum. Das Nette ist, der Schreiber hat am Ende des Eintrags, wo das Urteil steht, oft eine kleine Zeichnung gemacht, die die Strafe versinnbildlicht. Bei Diebstahl hat er eine mehrschwänzige Rute gemalt und daneben eine Hand mit einem Blutstropfen. Ausstäupen und Handabhacken also. Bei Mord – sehen Sie hier – ist fein säuberlich ein Schwert
Weitere Kostenlose Bücher