Die Markgräfin
Gregor Haubold nun die Bestände des Staatsarchivs zur Plassenburg, und der Aktenberg war schon ein ganzes Stück kleiner geworden. Bisher war noch kein Hinweis aufgetaucht, der ihn bei der Suche nach der Identität des toten Kindes weitergebracht hätte. Der Hof hatte sich, so viel war klar, das ganze sechzehnte Jahrhundert hindurch regelmäßig auf der Plassenburg eingefunden und war immer jeweils für einige Wochen dageblieben. All das war nicht ungewöhnlich. Wenn Haubold wenigstens gewusst hätte, nach welchem Anhaltspunkt er Ausschau halten sollte. So gestaltete sich sein Unternehmen als blinde Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.
Der Kastellan raufte sich zum x-ten Mal die Haare, die schon kreuz und quer von seinem Kopf abstanden. Er öffnete mit einem frustrierten Schnaufer das nächste Archival. Ein leichtes Tippen auf die Schulter ließ ihn zusammenzucken – es war Horn, der ihn leise aufforderte, ihm nach draußen zu folgen. Dankbar für die Pause erhob sich Haubold, zog seine Hose mit einer schwungvoll drehenden Bewegung nach oben und folgte dem Archivar in sein Büro.
Haubold ließ sich auf dem knarzenden Besucherstuhl nieder und sah den Archivar erwartungsvoll an. Horn schien im Wissen um seine Neuigkeit schier zu platzen. Mit triumphierendem Lächeln erzählte er:
»Also. Ich glaube, ich habe da was für Sie. Natürlich
bin ich bezüglich Ihres Forschungsproblems nicht untätig geblieben, das können Sie sich ja denken. Ich habe immer, wenn ich Zeit hatte, ein wenig unsere alten Buchbestände zum Thema Plassenburg durchgeblättert. Kennen Sie das Buch von Mader zur Baugeschichte der Plassenburg?«
Haubold nickte.
»Dachte ich mir. Ich habe heute Vormittag nachgelesen, was Mader zur Plassenburg im sechzehnten Jahrhundert schreibt. Nach seinen Angaben lässt sich die Bautätigkeit auf der Burg ganz genau verfolgen. Man kann also eruieren, welche Teile der Burg in dieser Zeit neu gebaut wurden und welche schon da waren.«
»Was hat die Bautätigkeit auf der Burg mit meiner Kinderleiche zu tun?« Haubold konnte nicht recht folgen.
»Sie sagten, Sie hätten die Truhe mit den Gebeinen im Gewölbe unterhalb der Markgrafenzimmer gefunden. Und Mader schreibt nun, dass dieser Teil des Hochschlosses im Jahr 1547 neu gebaut wurde. Wenn das stimmt, haben wir eine zeitliche Abgrenzung. Denn dann kann die Truhe nicht vor diesem Zeitpunkt eingemauert worden sein. Hier, sehen Sie!«
Horn blätterte aufgeregt die betreffenden Seiten in Maders »Bau- und Kunstgeschichte der Plassenburg« auf und gab das schon recht angestaubte Exemplar aus dem Jahr 1933 dem Kastellan zu lesen.
» … Vervollständigung der Außenwehren 1547 , dazu Arbeiten im Bereich des Hochschlosses … Kemenate westlich der Burgkapelle abgerissen und neu aufgerichtet. Horn, Sie sind genial. Der Sherlock Holmes der Staatsarchive! Das könnte wirklich stimmen. Schauen Sie, Mader weist in einer Fußnote auf die betreffende Quelle hin. Das lässt sich also kontrollieren. Kommen Sie!«
Die beiden Männer gingen zurück in den Lesesaal, wo Haubold aus dem wüsten Haufen an seinem Platz einen Akt zog.
»Hier haben wir ihn: ›Förderung der Gepew im Schloss Blassenberg 1547 ‹.« Der Kastellan begann zu entziffern.
»› … wollen wir berichten, dass die Kemenate neben der Cappellstuben nunmehr abgetragen und an ihrer statt ein newe Kemenaten samt Unterbau aufgericht. Darein befinden sich herrschaftliche Gemächer, ein newe Capellstuben sowie ein krumme Stuben mit Ercker.‹ Tatsächlich. Das muss es sein. 1547 und nicht vorher. Das grenzt unseren Suchzeitraum ein: zum einen auf die Jahre 1547 bis 1554 – 1554 wurde die Burg im Krieg zerstört und bis auf die Grundmauern in Schutt und Asche gelegt. Zum anderen auf die Jahre zirka ab 1570 bis Ende des Jahrhunderts, als die Burg wiederaufgebaut war und die Hofhaltung des neuen Markgrafen Georg Friedrich auf die sanierte Festung kam. Wobei mir Letzteres wahrscheinlicher vorkommt.
Vor 1554 , das war die Zeit des Markgrafen Albrecht Alkibiades, und der hat sich fast nie auf der Plassenburg aufgehalten. Da war auf der Burg vermutlich nur eine Grundbesatzung oder ein Militäraufgebot während der Belagerung und sicher keine hoch gestellte weibliche Person, die ein Kind bekam. Und Anfang der fünfziger Jahre begann der Bundesständische Krieg, da war die Plassenburg praktisch nur noch Festung und Garnison.«
»Na, ich hoffe jedenfalls, ich habe Ihnen geholfen«, sagte Horn, »dann suchen Sie mal
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