Die Mars-Chroniken
Eine große Gefühlsduselei war das gewesen heute. Die Kapelle, die bekannten Gesichter. Doch jetzt…
Wie nur? fragte er sich. Wie wurde das alles bewirkt? Und warum? Zu welchem Zweck? War hier irgendeine überirdische Güte am Werk? War Gott wirklich so fürsorglich? Wie und warum denn nur?
Er überdachte die verschiedenen Theorien, die Hinkston und Lustig in der ersten Hitze des Nachmittags geäußert hatten. Alle möglichen Theorien ließ er wie Kiesel durch seinen Geist fallen und im Drehen kleine gedämpfte Lichtblitze ausstrahlen. Mama. Paps. Edward. Erde. Mars. Marsianer.
Wer hatte vor tausend Jahren hier auf dem Mars gelebt? Oder war der Planet schon immer so gewesen?
Marsianer. Lautlos und langsam sagte er das Wort noch einmal vor sich hin. Fast hätte er laut aufgelacht, denn plötzlich war ihm eine ganz lächerliche Theorie eingefallen, die ihn mit merkwürdiger Kälte erfüllte. Nichts wirklich Greifbares, natürlich. Höchst unwahrscheinlich sogar. Blödsinnig. Vergiß das wieder. Lächerlich.
Aber, dachte er, wenn nun doch… Nimm einmal an, daß tatsächlich Marsianer auf dem Mars lebten, die unser Schiff kommen sahen und die uns darin sahen und die uns haßten. Nimm einmal an, einfach nur so, daß sie uns vernichten wollten, als Invasoren, als unerwünschte Eindringlinge, und daß sie es ganz geschickt anstellen wollten, damit wir nichts merkten. Und was war die beste Waffe eines Marsianers gegen Menschen von der Erde, die Atomwaffen mit sich führten?
Die Antwort war sehr interessant: Telepathie. Hypnose, Erinnerungen und Fantasie.
Nimm einmal an, all diese Häuser sind gar nicht wirklich vorhanden, ebensowenig wie dieses Bett – nimm einmal an, das alles hier sind nur Fantasieprodukte, denen die Marsianer durch Hypnose scheinbar Substanz verliehen haben. Nimm einmal an, diese Häuser besitzen in Wirklichkeit eine andere Form, irgendeine marsianische Form, und die Marsianer haben ihrer Siedlung – meinen Sehnsüchten und Wünschen folgend – das Gesicht meiner alten Heimatstadt gegeben und mein altes Haus wiedererstehen lassen, damit ich nicht mißtrauisch werde. Wie könnte man einen Mann besser übertölpeln, als durch seine eigene Mutter und seinen eigenen Vater, die man ihm als Köder hinhielt?
Und die Stadt, so alt, aus dem Jahr 1926 – älter als alle meine Männer. Aus einem Jahr, in dem ich sechs war und es tatsächlich Aufnahmen von Harry Lauder gab und Bilder von Maxwell Parrish an den Wänden, und Schnurvorhänge und ›Schönes Ohio‹ und Architektur der Jahrhundertwende. Wenn nun die Marsianer die Erinnerungen an eine Stadt ausschließlich von mir übernommen hätten? Es heißt ja, daß Kindheitserinnerungen stets sehr deutlich sind. Und als sie dann die Stadt aus meinem Gedächtnis erbaut hatten, bevölkerten sie sie mit den liebsten Angehörigen aus den Erinnerungen der Männer in der Rakete!
Und wenn nun die beiden Leute nebenan gar nicht mein Vater und meine Mutter wären, sondern zwei Marsianer, die mich unglaublich geschickt in meiner Traumhypnose halten können!
Und diese Blaskapelle! Was für ein verblüffender, wunderbarer Plan das wäre! Zuerst Lustig täuschen, dann Hinkston, dann eine Menschenmenge zusammenrufen, woraufhin seine Männer beim Anblick von Müttern, Tanten, Onkeln und Freundinnen, die schon zehn, zwanzig Jahre tot waren, natürlich sämtliche Befehle mißachteten und eiligst das Schiff verließen. Was wäre natürlicher? Was schiene harmloser? Was wäre wirkungsvoller? Ein Mann stellt keine kritischen Fragen, wenn seine Mutter plötzlich wieder ins Leben tritt; er ist viel zu glücklich darüber. Und da liegen wir nun heute nacht, dachte er, einzeln, jeder in einem anderen Haus, in einem anderen Bett, waffenlos, schutzlos, und die Rakete steht leer im Mondlicht. Wäre es nicht eine entsetzliche Entdeckung, wenn all das zu einem teuflischen Plan der Marsianer gehörte, uns zu zerstreuen und zu überwältigen und zu töten? Irgendwann in der Nacht wird sich mein Bruder dort vielleicht verändern, sein menschlicher Körper wird sich auflösen, zu etwas anderem werden, zu etwas Entsetzlichem – zu einem Marsianer. Es wäre dann ein leichtes für ihn, sich im Bett herumzudrehen und mich zu erstechen. Und in den anderen Häusern an der Straße verändert sich ein Dutzend anderer Brüder oder Väter und nimmt Messer zur Hand und tut den ahnungslosen Schlafenden Böses an…
Unter der Decke hatten seine Hände zu zittern begonnen. Ihm war kalt.
Weitere Kostenlose Bücher