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Die Mars-Chroniken

Die Mars-Chroniken

Titel: Die Mars-Chroniken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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sich herauslehnte und langsam, wie in einem zeitlosen Gewässer, irgendeiner sich bewegenden Form in den Tiefen unter den mondversilberten Türmen zuwinkte. Ein inneres Ohr vernahm Musik, und Spender versuchte sich die Form der Instrumente vorzustellen, die solche Töne hervorbringen konnten. Das Land war voller Gespenster.
    »He!« brüllte Biggs hochaufgerichtet, die Hände als Schalltrichter um den Mund gelegt. »He, ihr Leute da in der Stadt!«
    »Biggs!« sagte der Kapitän.
    Biggs verstummte.
    Sie gingen eine gepflasterte Straße entlang. Sie flüsterten nur noch, denn es war, als würden sie eine gewaltige offene Bibliothek oder ein Mausoleum betreten, in dem nur der Wind am Leben war und über dem die Sterne leuchteten. Der Kapitän sprach leise. Er überlegte, was aus den Einwohnern geworden sein mochte und wie sie wohl gewesen waren und welche Könige sie gehabt hatten und wie sie gestorben waren. Und er stellte leise die Frage, wie sie diese Stadt hatten bauen können, die so lange Zeit erhalten geblieben war, und ob sie wohl jemals zur Erde vorgedrungen waren. Waren sie vielleicht vor zehntausend Jahren die Vorfahren von Erdmenschen gewesen? Und hatten sie ähnlich geliebt und gehaßt wie wir und ähnlich dumme Dinge getan, wenn solche Dinge getan werden?
    Niemand bewegte sich. Der Mondschein umfing sie und hielt sie gefangen; der Wind strich leise an ihnen vorbei.
    »Lord Byron«, sagte Jeff Spender.
    »Lord wer?« Der Kapitän drehte sich um und sah ihn an.
    »Lord Byron, ein Dichter des neunzehnten Jahrhunderts. Er hat vor langer Zeit ein Gedicht geschrieben, das zu dieser Stadt paßt und dazu, wie den Marsianern jetzt zumute sein muß, wenn überhaupt noch welche am Leben sind. Die Verse könnten fast vom letzten marsianischen Dichter stammen.«
    Die Männer standen reglos auf ihren Schatten.
    Der Kapitän sagte: »Und wie lautet das Gedicht, Spender?«
    Spender geriet in Bewegung und streckte den Arm aus, als müsse er in sein Gedächtnis greifen, um die Worte einzufangen; dann kam die Erinnerung, und mit leiser Stimme sagte er langsam die Verse auf, und die Männer lauschten:
     
    Laß uns jetzt zur Ruhe kommen,
    Es ist spät schon in der Nacht,
    Hat die Lieb’ uns auch benommen,
    Scheint der Mond in heller Pracht.
     
    Die Stadt war grau und reglos und ragte hoch auf. Die Gesichter der Männer waren dem Licht zugewandt.
     
    Nutzt das Schwert die Scheide ab,
    So die Seele meine Brust,
    Ruhe, Herz, das ihn mir gab,
    Ruhe jetzt, du Liebeslust.
     
    Lieb’ ist zwar die Nacht beschieden,
    Vor der nahe Tag erwacht,
    Doch sei Ruhe nun und Frieden,
    Scheint der Mond in heller Pracht.
     
    Stumm standen die Erdenmenschen im Zentrum der Stadt. Es war eine klare Nacht. Kein Geräusch war zu hören außer dem Säuseln des Windes. Zu ihren Füßen erstreckte sich ein mit Mosaiken geschmückter Hof mit den Darstellungen seltsamer Tiere und Gestalten. Sie schauten darauf hinab.
    Biggs stieß einen erstickten Laut aus. Seine Augen waren stumpf. Er hob die Hände an den Mund, würgte, schloß die Augen, beugte sich vor, und ein Schwall dicker Flüssigkeit schoß ihm in den Mund, strömte heraus, spritzte auf die Steine und besudelte die Kunstwerke. Zweimal brach es aus Biggs hervor. Ein scharfer saurer Geruch erfüllte die kühle Luft.
    Niemand half Biggs, der sich immer wieder übergab.
    Spender sah einen Augenblick lang zu. Dann wandte er sich um und entfernte sich in die Straßen der Stadt, allein im Mondlicht. Er drehte sich nicht um.
     
    Sie kehrten um vier Uhr morgens zurück. Sie lagen auf Decken und schlossen die Augen und atmeten die stille Luft ein. Kapitän Wilder saß am Feuer und hielt es mit kleinen Holzstücken am Leben.
    Zwei Stunden später öffnete McClure die Augen. »Wollen Sie nicht schlafen, Sir?«
    »Ich warte auf Spender.« Der Kapitän lächelte schwach.
    McClure überlegte. »Wissen Sie, Sir, ich glaube nicht, daß er überhaupt wiederkommt. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, Sir; er kommt nicht wieder.«
    McClure wälzte sich herum und schlief wieder ein. Das Feuer loderte kurz auf und erstarb.
     
    Eine Woche verging, und Spender war nicht wiedergekommen. Der Kapitän schickte Suchtrupps aus, die jedoch zurückkehrten und sagten, sie wüßten nicht, wohin Spender verschwunden sein könnte. Er würde schon zurückkommen, wenn er dazu bereit wäre. Er sei sowieso ein Querkopf, sagten sie, ein chronischer Nörgler. Zur Hölle mit ihm!
    Der

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