Die Marseille-Connection
schon?«
SIEBEN
Mairam Nasirowa hatte Angst. Sie hatte gemeint, an die beständige Anspannung des Lebens im Untergrund gewöhnt zu sein, aber in Marseille hatte sie sich noch keinen Augenblick sicher fühlen können. Und jetzt, da die Transnistrier sich nicht mehr meldeten, war sie mit größter Wahrscheinlichkeit in Gefahr.
Ihr Überlebenstrieb, der sie dazu gebracht hatte, erst aus Grosny zu fliehen, dann aus Moskau, drängte sie dazu, auf ein Schiff nach Marokko zu gehen, und die Angst trieb sie, ihr Versteck zu verlassen und nie wieder hierher zurückzukehren. Mounir Danine hatte ihr geschworen, das Viertel werde von einem salafitischen Solidaritätsnetz kontrolliert, das ihre Sicherheit garantiere, doch das war nur Gerede, um sie zu beruhigen. Bei dieser Operation war sie nur eine bestimmte Zeitlang von Nutzen. Nach den Waffen sollten zwölf junge Männer aus Tschetschenien kommen, um erst ausgebildet und dann in eine der zahlreichen Konfliktzonen rings um das Mittelmeer geschickt zu werden; sie hingegen würde wieder eine einfache Frau sein und fertig. Das war der Preis, den sie zur Rettung ihres Volkes zu zahlen hatte. Ghilascu und Natalia Balàn teilten zwar ihren Hass auf die russischen Invasoren, hatten sich aber fürstlich bezahlen lassen. Bis jetztwaren sie immer pünktlich gewesen. Wieder versuchte Mairam es unter einer Telefonnummer, die dieser Operation vorbehalten war, aber es läutete ins Leere, bis die Voicebox sich anschaltete.
Der Plan sah vor, dass die tschetschenischen Guerilleros mit zwei Kleinbussen eines rumänischen Reiseunternehmens – eines der vielen, die Emigranten durch Europa kutschierten – aus dem moldauischen Galat¸ i kommen würden. Ein Stop in Italien, einer in Marseille. Die Transnistrier hatten noch per Telefon mitgeteilt, Mairams »Nichte« sei unterwegs, seitdem hatte sie nichts mehr gehört.
Für die Nasirowa war das der letzte Auftrag im Ausland, danach sollte sie nach Tschetschenien zurückkehren. Sie war immer mehr davon überzeugt, dass der Widerstand andere Strategien finden musste, doch sie hatte große Schwierigkeiten, Gehör zu finden. Die Witwen waren nach allgemeiner Auffassung zum Martyrium bestimmt, weniger dazu, politische Führung zu übernehmen.
Sie beschloss, in einem der Lokale des Viertels, die noch spät geöffnet hatten, etwas essen zu gehen. Sie musste einfach aus der erstickenden Enge dieser Einzimmerwohnung hinaus. Sie betrachtete sich im Spiegel, fuhr sich mit ihrem Finger, der so fein war wie der einer Pianistin, über die Falten, die das vom Schicksal gebeutelte Leben hinterlassen hatte, und dachte: Ich sehe aus wie eine alte Frau. Dann bedeckte sie ihren Kopf mit einem Hijab.
Kaum war sie aus der Tür, sprang sie der Nordwestwind an, doch so kräftig er auch war, kalt war er nicht. Ein seltsamer Herbst, der eher warm blieb, auch in Grosny. Jeden Tag verfolgte sie den Wetterbericht, und an diesem Abend waren es dort nur drei Grad weniger als in Marseille.
Wie oft hatte man ihr nicht gesagt, sie solle nicht zu nah an den Autos gehen, und wie oft hatte sie es nicht selbst anderen Widerständlern eingeschärft. Unvermittelt glitt die Seitentür eines Lieferwagens auf, kräftige Arme packten sie, zogen sie nach innen und drückten sie auf den metallenen Boden. Sie spürte noch den Stich einer Nadel im Hals, dann war sie schon narkotisiert. Wenige Sekunden später, und der Wagen fuhr weiter.
Ulita konnte kaum glauben, dass es ihnen gelungen war, die Nasirowa festzusetzen. Freilich, allzu schwer war es nicht gewesen, das Stadtviertel und schließlich auch das Haus herauszufinden, in dem sie sich versteckte. Dank der Elektronikkünste des Agenten Georgij Lawrow waren den Computern und Handys, die sie den toten Transnistriern abgenommen hatten, deren Geheimnisse bald entrissen. Als Natalia Balàn zugab, dass sie per Telefon Kontakt hielten, wollte die Winogradowa das erst nicht glauben, es war doch kaum möglich, dass sie ein so unsicheres Kommunikationsmittel verwendeten. Es gab bessere Technologien, und an Geld fehlte es den beiden Idioten nicht. Kalissa aber versicherte ihr, dass es die Wahrheit sei. Ihr Opfer war unter den Schmerzen zusammengebrochen und log nicht mehr.
Ulita benachrichtige General Worilow von der Gefangennahme der Tschetschenin. Ihr Vorgesetzter war angesichts schlechter Wahlergebnisse, die die Macht des Premiers schwächten, seit Tagen ungenießbar gewesen, doch jetzt fand er seine gute Laune wieder. Er befahl die
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