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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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geschlossen hielt, so daß die Worte als eine Art Gemurmel hervorkamen, ohne daß ihr Gesichtsausdruck sich änderte. Margaret hatte lange, harte Zeiten hinter sich; sie hatte körperliche Erniedrigungen erlitten und war jetzt nicht mehr bereit, der Welt irgend etwas Überflüssiges zu bieten. Dennoch besaß sie äußerst geschickte und sanfte Hände, wie ich wußte, denn ich hatte ja schon beobachtet, wie sie mit dem armen Brendan verfahren war. So wurde ich denn mit Stephens Rasiermesser und Wasser aus der Pumpe auf dem Hof kahlgeschoren, ohne daß ich auch nur einen Kratzer abbekam.
       »Und falls irgendwer nach dem Grund fragt, sagen wir ihm, daß es wegen des Kopfgrinds ist«, erklärte Springer. Als ängstliche und friedfertige Seele hatte er stets Begründungen und Entschuldigungen im Sinn, und er wußte, daß es eine gute Ausrede war, weil er als Kind selbst unter dieser Krankheit gelitten hatte und von einem Barbier geschoren worden war.
       Die Kirche befand sich am Hang eines Hügels. Vom Friedhof aus konnte man über das bewaldete Tal hinwegschauen, durch das der Fluß verlief, bis hin zum kargen Hochland in der Ferne, das einen schwachen Hauch vom Licht des Meeres aufwies – von dort aus fiel das Land zur See hin ab. Es war ein Land der niedrigen Hügel und der weiten Täler. Die Bäume waren jetzt kahl, bis auf die hartnäckigen, rotbraunen Eichenblätter. Die von Adlerfarn bewachsenen Hänge am gegenüberliegenden Ufer des Flusses hatten die Farbe von Rost. Alles war still – es war ein windloser Tag. Der Himmel über uns war dunkel und von Schnee geschwängert.
       Brendans letztes Kostüm war das Leichentuch eines Armenbegräbnisses. Einen Sarg gab es nicht. Wir beobachteten, wie sein Körper von Martin und Stephen in die Erde hinabgelassen wurde, um dort auf das Jüngste Gericht zu warten, dessen Ankunft nun nicht mehr lange dauern kann. Unsere Hoffnungen und Gebete für Brendan galten auch uns selbst: Wir baten den Herrgott, daß Brendan, obgleich seine sterbliche Hülle nunmehr endgültig der Verwesung anheimfiel, dereinst wieder in Herrlichkeit gekleidet sein möge, wenn die Gräber sich auftun, um die Toten freizugeben.
       Der Rauhreif, der mit der Nacht gekommen war, war inzwischen von den Spitzen der Grashalme verschwunden, und sie zeigten sich in einem dunkleren Grün. Auf dem Friedhof gab es so etwas wie eine Gezeitenmarke des Todes: ein langgestreckter Wellenkamm, wo die Opfer der Pest des Sommers in einer gemeinsamen Grube bestattet waren. Der Schwarze Tod ist nach einer Art Schonzeit, die ungefähr ein Dutzend Jahre währte, in diese nördlichen Gefilde zurückgekehrt. Der Tod ist ein Nimmersatt, und wieder einmal können wir jetzt auf jedem Friedhof sehen, wie diese Flutlinie langsam höher kriecht. Auf der anderen Seite, an der Mauer der Apsis, wo das Gras geschützt hatte wachsen können und dem Frost entkommen war, weideten die vier Schafe des Priesters. Hinter der Pestgrube befand sich ein einzelnes frisches Grab, sehr klein, ein Kindergrab mit einem geteerten Kreuz aus Holz. Dahinter, über den Bäumen des Tales, sah ich, wie sich mit trägem Schlag seiner Schwingen ein Reiher erhob.
       In einem hastigen Näseln sprach der Priester den letzten Segen, und noch während er dies tat, begann es dicke, weiche Flocken zu schneien, die mitten in der Luft schwebten und dann zur Seite trieben, als wollten sie sich vorsichtig einen Landeplatz suchen, an dem sie keinen Schaden nahmen. Bei der ersten Berührung mit dem Schnee machte der Priester sich in unziemlicher Eile auf den Rückweg zur Kirche. Sein Geld hatte er bereits in der Sakristei erhalten. So gab es jetzt, während der Schnee immer dichter fiel, nichts mehr zu tun, außer zuzusehen, wie die ersten Schaufeln Erde über Brendan gedeckt wurden, und sich dann auf den Rückweg zum Wirtshaus zu machen.
       Doch Martin kam nicht gleich mit uns. Er verweilte noch, und ich sah, wie er zu dem Totengräber ging und mit ihm sprach. Während wir den Weg hinabschritten, der um den Friedhof herum zum Kirchentor führte, ließ ich mich zurückfallen, trennte mich von den anderen, überquerte das gefrorene Gras und ging die Pestgrube entlang bis zu dem kleinen Grab. Die Erde war frisch ausgehoben. Auf dem Kreuz stand kein Name; zweifellos war noch keine Zeit gewesen, Buchstaben in das Holz zu schnitzen. Wann, hatte der Stallknecht gesagt, hatte man den Jungen gefunden? Vorgestern, am Morgen. Die Rechtsprechung in dieser Stadt geht

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