Die Masken der Wahrheit
flink vonstatten, hatte Straw gemeint. Die Beseitigung des Opfers offenbar nicht minder. Aber vielleicht war es ja das Grab eines anderen … Für kurze Zeit stand ich da und sah zu, wie der Schnee die Erde auf dem Grab dunkel färbte. Ich versank in einen geistigen Zustand, wie er Scholaren vertraut ist: aufmerksam und abwesend zugleich, als würde man sich mit einem fehlerhaften oder unvollständigen Text auseinandersetzen. Es kommt häufig vor, daß einem die wirkliche Absicht des Verfassers ganz von selbst aufgeht, wenn man ohne Fragen wartet. Zögernd, behutsam, wie dieser erste Schnee.
Als ich mich wieder zu den anderen gesellte, befand ich mich noch immer in diesem Zustand. An der überdachten Kirchhofspforte warteten wir auf Martin. Ich stand ein kleines Stück entfernt von den anderen, gerade noch unter dem Dach, auf der Seite, die zur Straße hin lag. Ohne besonderen Grund trat ich ein paar Schritt nach vorn und blickte in Richtung der Stadt. Der Schnee wirkte wie eine Nebelschicht, und für einen Augenblick schien es nichts anderes zu geben als diesen weißen Schleier; im nächsten Moment waren dunkle Schatten darin zu sehen, die sich langsam den Hügel hinaufbewegten: Es waren zwei Reiter, und bei ihnen war ein großes schwarzes Tier, dessen Haupt sich so hoch erhob wie die ihren, und es hatte rote Augen, und über seinem Kopf bewegte sich ein Schemen in Rot, dunkelrot vor dem Weiß des Schnees, und ich erkannte dies als den feurigen Atem des Tieres. Ich wußte auch, was für ein Tier es war und von welcher Art die Reiter, und ich bekreuzigte mich und stöhnte laut auf in meiner Furcht; denn das Tier erschien ganz und gar unerwartet, so daß meine Seele nicht vorbereitet war.
Als die anderen mein Stöhnen hörten, umringten sie mich, und auch sie schauten die Straße hinunter, doch was sie sagten – falls sie überhaupt etwas sagten –, weiß ich bis heute nicht. Ich sah nur, daß Springer auf die Knie sank und dann, einen Augenblick später, auch Stephen. Meine Beine zitterten, doch ich fiel nicht zu Boden. So gut ich konnte, kämpfte ich gegen die Lähmung an, die mich ob meiner Furcht befallen hatte; denn, wie Christus sagt: Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem andern Tode, und er wird eingehen in das Neue Jerusalem. Ich wußte überdies, daß die Zeugen der Offenbarung, welche von dem Tier aus dem Abgrund getötet wurden, später in den Himmel emporgestiegen waren. Doch waren sie fest im Glauben geblieben, und ich nicht.
Sie kamen mit einem steten Schritt näher, und es kostete all meinen Mut, ihnen ins Gesicht zu blicken und zu beten, daß ich von dem Übel erlöst werden möge. Doch noch während das Vaterunser über meine Lippen kam, sah ich, daß die wogende rote Gestalt sich über dem Haupt des vorderen Reiters befand und unveränderlich über ihm blieb, während er sich vorwärtsbewegte; es war eine Art Zelt oder Baldachin. Und dann hörte ich Tobias’ Stimme sagen, daß es sich um einen Ritter mit Knappen und einem Schlachtroß handle, und ich sah, wie Stephen sich aufrappelte und sich erbot, Springer auf die Beine zu helfen, als hätte sein Tun von Anfang an einzig dem Ziel gegolten, ihm diesen Dienst zu erweisen.
Tobias’ Worte erwiesen sich als zutreffend. Was ich für Augen gehalten hatte, waren rote Scheuklappen, welche dem Tier Blicke zur Seite verwehrten. Und gleich darauf sah ich, daß an seiner Flanke eine lange Turnierlanze festgeschnallt war, die vorn und hinten ein Stück vorstand. Und über dem Kopf des vorderen Reiters war eine Überdachung aus irgendeinem rotem Stoff, vielleicht aus Seide, sehr dünn und nunmehr durchnäßt; das trübe Licht drang hindurch und fiel auf das bleiche Gesicht des Reiters. Sein Roß war ein schwarzer Zelter, der den Kopf hob und schnaubte, sobald der Schnee ihn berührte. Der hintere Reiter hielt das Haupt gesenkt, und die lange Zierfeder an seinem Hut fiel ihm tief in die Stirn, doch als sie alle näher kamen, erkannte ich in ihm den Knappen, der am Abend zuvor geholfen hatte, das widerspenstige Pferd – den besagten Zelter – in den Stall des Wirtshauses zu führen. Der Knappe ritt eine graue Stute und führte das Schlachtroß an einem kurzen Strick. Letzteres war ein gewaltiges Ungetüm – jenes Tier, über das der Stallknecht sich beklagt hatte – und gleichfalls von schwarzer Farbe. Der Schild lag auf dem vorderen Sattelbaum, und wieder sah ich das Wappen mit der zusammengeringelten Schlange und
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