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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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etwas dran, auch wenn er fast im Schlaf gesprochen hat«, fuhr er fort. »Die Geschichte vom Sündenfall ist eine alte Geschichte. Die Leute wissen, wie sie ausgeht. Aber nehmen wir einmal an, es wäre eine neue Geschichte?«
       »Eine neue Geschichte über unsere Eltern im Paradies?«
       »Dieser Mord, von dem du gesprochen hast«, sagte er. »Als wir auf dem Weg zum Priester waren, haben wir etwas darüber gehört.«
       Ich besitze manchmal die Gabe, Dinge vorherzusehen, wie ich bereits am Anfang sagte. Manchmal wissen wir nicht, daß wir auf etwas warten, bis das Erwartete eintrifft. Und mit diesen Worten Martins traf es ein; was er sagte, hätte eigentlich eine Überraschung für mich sein müssen, war es aber nicht. Und in diesem Augenblick, in dieser armseligen Schenke, überkam mich zum erstenmal Erschrecken, als ich das Licht auf seinem Antlitz sah, das Licht der Kühnheit. »Der Stallknecht vom Wirtshaus hat davon gesprochen«, sagte ich. »Ich hätte nicht gedacht, daß du dieses Gerede überhaupt beachtet hast.«
       »O doch«, sagte er. »Es gehört zu unserem Beruf, auf solche Dinge zu achten. Die ich gehört habe, waren alles Frauen. Sie sprachen mit gedehnten Stimmen, wie die Weiber es tun, wenn sie bei einer schlimmen Sache einer Meinung sind und wenn es ihnen Spaß macht, sich einig zu sein.« Er riß die Augen auf, zog die Mundwinkel herab und ahmte das Geschwätz der Frauen nach, wobei seine Stimme kaum lauter war als Gemurmel: »Ja-a-a, sie hat immer einen so schicklichen Eindruck gemacht, wer hätte so etwas von ihr gedacht, sie hatte doch gar keine Augen für Männer … na ja, Nachbarinnen, welcher Mann hätte sie auch schon gern zur Frau?« Er hielt inne und musterte mich mit ernstem Blick. »Alle Stimmen sagten dasselbe«, sagte er. »Wie ein Chor. Nun frag’ ich dich – weshalb sollte ein Mann diese Frau nicht zum Weibe haben wollen?«
       »Na, wo sie doch eine solche Tat begangen hat …«
       »Nein«, sagte er, »die Frauen haben sich über die Zeit vor dem Mord unterhalten. Vielleicht ist sie häßlich; vielleicht ist sie eine Hexe.«
       Ich wollte nicht darüber sprechen, doch sein Wille war stärker und beherrschte den meinen – damals und auch später. Seine Begeisterung, der Ausdruck von Interesse auf seinem Gesicht bezwangen mich. Und ich nährte dieses Interesse noch mit den Brosamen, die er mir selbst gegeben hatte. »Der Beichtvater des Barons hat das Geld gefunden«, sagte ich. »Er hat es im Haus der Frau entdeckt.«
       »Nicht in ihrem Haus«, sagte Martin, »sondern in dem Haus ihres Vaters. Sie ist eine junge Frau und noch ledig. Sie hat kein Haus.«
       »Woher weißt du das?« fragte ich ihn, doch er zuckte nur leicht mit den Schultern. Der Abort draußen auf dem Hof verströmte einen durchdringenden Gestank. Die Männer, die den Abtrittsdünger holten, waren auf ihrer Runde noch nicht hier gewesen. Ich war mit einem Mal müde und ängstlich, wußte aber nicht, wovor ich mich fürchtete. Ich mußte plötzlich an das Gesicht des Stallknechts denken, als er sich aus dem Schatten ins Licht gewandt hatte.
       »Ich habe mit der Frau des Priesters gesprochen, während ich auf ihn wartete«, sagte Martin. »Tobias ist draußen geblieben, weil der Köter bei ihm war, den er so liebt.«
       »Du hast …?«
       »… ihr ein paar Fragen gestellt, ja.«
       Ich wartete einen Augenblick, aber er schwieg. Doch selbst jetzt ließ die Sache mir keine Ruhe mehr. »Wie dem auch sei«, sagte ich, »es ist seltsam und ungewöhnlich, daß eine Frau ohne Hilfe eines Dritten auf diese Art und Weise einen Mann ermordet.«
       »Auf welche Art und Weise? Wir wissen doch gar nicht, wie der Mord verübt wurde.«
       »Auf offener Straße, wollte ich damit sagen. Gut möglich, daß eine Frau einen Mann aus Zorn oder Eifersucht tötet und dafür einen Zeitpunkt wählt, da der Mann nicht auf der Hut ist.«
       »Es war kein Mann. Es war ein Knabe von zwölf Jahren.«
       Darauf hatte ich keine Antwort. Thomas Wells war also noch ein Kind gewesen. Doch wenn man kleine Steinchen aus einem Mosaik entfernt, wird das Gesamtbild dadurch nicht weniger häßlich. Es traf allerdings zu, daß eine Frau ein Kind leichter ermorden konnte als einen Mann … Martin hatte die Frau des Priesters anscheinend eingehender befragt, als ich gedacht hatte.
       Jetzt lächelte er und begann, in der Zeichensprache zu mir zu reden, was er oft tat und stets wie aus heiterem

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