Die Masken der Wahrheit
die Geräusche von Stimmen draußen auf dem Hof klangen gedämpft – oder ich wurde für einen Augenblick taub für diese Laute. Wenn Stille die Welt umhüllt, gibt es stets ein leises Geräusch, das dann lauter wird: Ich konnte das Wispern und Seufzen des Schnees hören, und dieser Klang war in mir und außer mir.
Es war Tobias, der mit seiner Stimme die Geräusche in die Welt zurückbrachte. »Den Mord spielen?« fragte er. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Verwirrung. »Was meinst du damit? Meinst du die Ermordung des Jungen? Wer spielt denn Dinge, die auf der Welt geschehen? «
»Die Sache war aus und vorbei, nachdem sie geschehen war«, sagte Straw. Er hielt für einen Moment inne und schaute mit seinen vorstehenden, unstet blickenden Augen in die Ecken des Schuppens. »Das ist Narretei«, fuhr er fort. »Wie können Menschen etwas spielen, das nur ein einziges Mal geschehen ist? Wo sind die Worte dafür?« Und er hob beide Hände und vollführte die Geste für ›heilloses Durcheinander‹, indem er mit den Fingern wedelte.
»Die Frau, die den Mord begangen hat, lebt noch«, sagte Margaret. »Und weil sie noch lebt, ist sie selbst in dieser Rolle. Sie gehört der Frau; niemand sonst kann sie übernehmen.«
Ich hatte Margaret noch nie über etwas reden hören, das die Schauspielerei betraf, doch Martin wies sie nicht zurecht; er war zu sehr auf das Gespräch konzentriert. »Weshalb sollte das irgendwas ausmachen? « sagte er. »Kain hat Abel getötet. Auch das war Mord. Auch das war eine Geschichte, die nur einmal geschehen ist, nur ein einziges Mal. Trotzdem können wir sie spielen, und wir spielen sie oft. Wir zeigen auch, wie es geschehen ist, indem wir einen gesprungenen Krug unter Abels Gewand stecken, um das Knacken seiner Knochen nachzuahmen. Weshalb sollten wir nicht den Mord spielen können, der hier in der Stadt begangen wurde, wo wir uns doch hier befinden?«
Tobias schüttelte den Kopf. »Weil es kein Zeugnis darüber gibt«, sagte er. »Nirgends steht über diesen Mord etwas geschrieben. Die Geschichte von Kain und Abel dagegen steht in der Bibel.«
»Tobias hat recht«, sagte ich. Ich konnte nicht schweigen, obwohl meine Wortmeldung bedeutete, gegen Martin Partei zu ergreifen. Sein Vorschlag war sündhaft und erfüllte mich mit Angst, und was das anging, gab es einen Unterschied zwischen mir und den anderen: Sie waren bloß überrascht, weil die Idee neu war, doch in ihrem Inneren bekümmerte die Sache sie nicht, ausgenommen vielleicht Tobias – obwohl es später allen so ergehen sollte. »Was in der Heiligen Schrift steht, ist von Gott gegeben«, sagte ich. »Die Geschichte von Kain und Abel wird erst durch die Weisheit des Allmächtigen vollständig. Es ist nicht bloß die Geschichte eines Mordes, sondern sie wird fortgeführt bis zur Bestrafung. Und der Mord und die Strafe sind im Willen des Schöpfers mit eingeschlossen.«
»Das gilt auch für diesen Mord. Das gilt für alle Morde auf der Welt«, sagte Springer, und auf seinem schmalen Gesicht – dem Gesicht des ewigen Waisen – lag bereits das Licht von Martins Idee.
»Stimmt«, sagte ich, »aber der Mord in dieser Stadt hat keine höhere Moral. Es ist keine von den Geschichten, die Gott uns gegeben hat, auf daß wir daraus lernen. Gott hat uns nicht ihren Sinn enthüllt; demnach hat sie keine Bedeutung. Was hier geschah, ist bloß ein Tod. Schauspieler sind wie andere Menschen. Sie müssen sich danach richten, welchen Sinn Gott den Dingen verleiht; sie dürfen sich nicht einfach selbst eine Bedeutung ausdenken. Das ist Ketzerei. Das ist die Quelle all unseren Übels. Es ist der Grund dafür, daß unser erstes Elternpaar aus dem Paradies geworfen wurde.«
Doch als ich in die Gesichter ringsum blickte, erkannte ich bereits, daß meine Darlegungen nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Es mag sein, daß der eine oder andere Furcht hatte, doch war es nicht die Furcht, Gott zu beleidigen, sondern die Furcht vor der Freiheit, die Martin uns darbot: der Freiheit, alles auf der Welt zu spielen … Ja, er bot uns die ganze Welt an; in der Enge des Stalles spielte er für uns den Teufel. Und welcher Lohn uns im Diesseits winkte, brauchte er nicht näher zu erklären; wir konnten alles schon deutlich sehen: Die Leute würden sich drängen, um ›ihren‹ Mord auf der Bühne zu erleben, und sie würden zahlen. Am Ende entschied unsere geldliche Not die Angelegenheit zu Martins Gunsten – dies und
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