Die Masken der Wahrheit
die Eigenart der Schauspieler, stets an ihre Rollen zu denken und daran, wie sie ihnen am besten gerecht werden können; die zwar die Worte des Spielleiters vernehmen, jedoch nur selten an die Bedeutung als Ganzes denken. Hätten diese Leutchen hier genau das getan, hätten sie gesehen, was ich, der in höherem Maße daran gewöhnt war, Schlußfolgerungen zu ziehen, jetzt sah und wovor ich zitterte: Wenn wir allen Dingen selbst einen Sinn verleihen, wird Gott uns zwingen, auch unsere Fragen selbst zu beantworten. Er wird uns in der Leere zurücklassen, ohne den Trost seines Wortes.
»Was hier geschehen ist, hat keine Bedeutung. Es ist bloß ein Tod«, sagte ich noch einmal, obwohl ich wußte, daß es ein sinnloses Unterfangen war. »Es war nicht genug Zeit, um den Sinn zu erkennen, den Gott dieser Sache verleiht.«
»Menschen können Dingen selbst einen Sinn verleihen«, sagte Tobias. »Das ist keine Sünde; denn wenn wir Menschen Dingen eine Bedeutung geben, geschieht dies stets nur für begrenzte Zeit, und es kann sich ändern.«
Ja, es war Tobias, klug und ausgeglichen, der Darsteller der Menschheit, der sich nun als erster auf Martins Seite schlug, wenngleich er ihm vorhin als erster widersprochen hatte. Die anderen folgten seinem Beispiel.
»Gott kann doch nicht wollen, daß wir verhungern, während wir darauf warten, daß er uns den Sinn des Ganzen enthüllt«, sagte der arme Springer – er kannte den Hunger nur zu gut.
»Wir werden am Straßenrand sterben, bevor wir erfahren, welchen Sinn Gott dieser Sache verleiht«, sagte Straw. Er machte das Zeichen des Sensenmannes, eine weit ausholende, schwungvolle Bewegung von rechts nach links mit nach oben gekehrter Handfläche. »Der Tod wartet nicht darauf, daß Dinge einen Sinn bekommen«, sagte er. »Ob Schwert oder Strick oder Pest, für ihn ist alles gleich.«
Stephen beugte sich vor, und die Flammen des Feuers erhellten sein dunkles, grüblerisches Gesicht. »Es ist nicht so sehr die Frage nach Sinn und Bedeutung«, sagte er. »Da gibt es ein Kind, eine Frau, einen Mönch …« Er hielt inne, suchte angestrengt nach Worten. »Da ist nur eines«, fuhr er schließlich fort, »und das ist sonderbar. Es gibt keine Figuren. «
»Für alles läßt sich eine Form finden«, sagte Martin. »Erkennst du das denn nicht? Wir alle haben schon bei jenem Spiel mitgewirkt, in dem wir denjenigen, der vom rechten Weg abweicht, als ›Jedermann‹ oder als ›Menschheit‹ oder als den ›König des Lebens‹ bezeichnen. Und denen, die um seine Seele kämpfen, geben wir die Namen ›Tugend‹ und ›Laster‹. Also machen wir ihn zu einer Figur, die stellvertretend für alle steht. In jeder Seele findet die gleiche Schlacht statt, in der unseren wie in der jener Frau, die Thomas Wells beraubt und ermordet hat. Es ist eine sehr alte Form des Schauspiels und diejenige, die am längsten überdauern wird.«
Martin benutzte seine Darlegungen, um vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen, was zwar in der Logik erlaubt sein mag, aber niemals in einem Diskurs über die Moral. Doch traf es zu, was er über die Form des Schauspiels sagte. Seit tausend Jahren – seit der Psychomachia des Prudentius – gibt es die Geschichte vom Kampf um die Seele.
»Wir könnten es als Moralität aufführen«, sagte er, »als Maskenspiel. «
Springer hauchte auf seine Finger, wohl mehr aus Gewohnheit als aus irgendeinem anderen Grund, denn so nahe beim Feuer war uns nicht sonderlich kalt. »Aber wir haben keine Worte dafür«, sagte er. »Es gibt einige Reden von den Engeln und Dämonen, die wir gebrauchen könnten, doch ich habe sie nicht so gut im Gedächtnis, daß ich ohne Hilfestellung auskäme.«
»Ich auch nicht«, sagte Straw. »Und zum Einstudieren wird nur wenig Zeit bleiben.«
»Wir könnten es ja als eine Art Gebärdenspiel aufführen und dazu Verse aus dem Stegreif sprechen. Es muß sich ja nicht reimen«, sagte Martin. »Schließlich haben wir so etwas schon öfters gemacht. Das Stück wird nicht länger als eine halbe Stunde dauern, vielleicht noch weniger.« Im Gefühl, die Schlacht siegreich geschlagen zu haben, sprach er jetzt voller Zuversicht. »Anschließend führen wir das Stück von Christi Geburt auf«, sagte er. »Beide Stücke werden sehr gut zueinander passen – ein Kind, das aus Habgier getötet wird, und ein Kind, das geboren wird, um für unsere Sünden zu büßen. Denkt nur an das Geld, das wir
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