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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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einnehmen werden, Leute, denkt nur daran. Wir werden dafür sorgen, daß der Hof von Zuschauern überquillt.«
       Er blickte uns an, wartete auf Zustimmung. Niemand widersprach ihm. Auch ich nicht, doch schlug ich die Augen nieder, weil ich wußte, daß dieses Unternehmen gottlos war. Wir würden die Körper noch lebender Menschen vereinnahmen und unseren Gewinn aus dem vergossenen Blut eines Kindes ziehen.
       »Wir werden es das ›Stück von Thomas Wells‹ nennen«, sagte Martin. Eine Pause trat ein; dann sprach er wieder, doch seine Stimme hatte sich völlig verändert. »Komm«, sagte er. »Wärme dich, mein Guter. «
       Ich blickte auf, um festzustellen, zu wem er sprach. In der Luft, die über dem Kohlenbecken zitterte, hüpften und tanzten Schneeflocken in wildem Wirbel. Sie schienen nicht herunterzufallen, sondern in der wabernden Luft zu wogen und einen schimmernden Schirm zu bilden. Und in diesem Schimmer war ein weißes Mondgesicht mit offenem, lächelndem Mund, als hätten die Schneeflocken sich dort zu einem Klumpen zusammengeballt. Ich sah, wie sich die Lippen leicht bewegten, als müßten die Worte erst gekaut werden, bis sie weich genug waren, daß man sie aussprechen konnte. Eine enge, zerlumpte Kapuze umschloß das Gesicht. Der spärliche Bart des Mannes war feucht, und feucht glänzten auch seine Wimpern. Ich hatte dieses Gesicht eines Schwachsinnigen schon einmal gesehen, konnte mich aber nicht erinnern, wo es gewesen war. Er war gekommen, sich an unserem Feuer niederzukauern.
       »Er möchte uns etwas sagen«, meinte Tobias. »Was ist denn, guter Freund?«
       Wieder bewegten sich die Lippen, aber diesmal kamen Worte aus dem Mund, weich und verschwommen zwar, doch deutlich genug, um zu verstehen, daß der Mann den Namen des Knaben nannte. »Thomas Wells«, sagte er und blickte uns über die glühenden Holzscheite des Feuers an. »Sie haben Thomas Wells gefunden.«
       Als er dies sagte, dachte ich bei mir, er könnte ein Dämon sein, und mir war, als ob ich unter seiner Kapuze die Umrisse von Hörnern ausmachen könnte. Mir stockte der Atem in der Kehle, und ich sagte irgend etwas, kann mich jedoch nicht mehr erinnern, was ich sprach. Springer zuckte zurück. »Der Herrgott beschütze uns alle«, sagte er und bekreuzigte sich.
       »Es ist ein Bettler, der manchmal auf den Hof des Wirtshauses kommt«, sagte Margaret in ihrem ausdruckslosen, murmelnden Tonfall. »Ich habe ihn auch schon draußen auf der Straße gesehen«, fügte sie hinzu. »Was ist denn, guter Mann?«
       »Sie haben ihn gefunden, bevor die Engel kamen«, sagte der Fremde. »Früh am Morgen haben sie ihn heimgebracht. Robert Moores Sohn und der Jüngste von Simon, dem Schmied, und John Goody, der Junge, der die Schafe hütete – die alle haben die Engel zuerst gefunden. «
       »Was meinst du damit?« fragte Martin. »Waren da noch andere? Wer hat ihn gefunden? Wer hat Thomas Wells gefunden?«
       »Jack Flint hat ihn gefunden.« Die Augen des Schwachsinnigen glänzten hell. Sein Mund war eine Pfütze voller Speichel. »Sünden sind wie Steine«, sagte er. »Aber Kinder sind leicht genug, daß sie fliegen können. Mit diesen Augen hab’ ich sie gesehen.« Er hob eine Hand, die Innenfläche nach vorn gekehrt und die Finger gespreizt, und hielt sie für einen Augenblick vor sein lächelndes Gesicht, wie um die Augen vor Strahlen zu schützen, die zu hell waren, als daß er sie ertragen konnte; doch zugleich versuchte er, zwischen den Fingern hindurchzuspähen, um sich den Anblick nicht entgehen zu lassen. »Ich schaute über die Häuser«, sagte er. »Die Engel haben gesungen, als sie die Kinder davontrugen. Das Licht hat meinen Augen weh getan. Ich hab’ zu Jane Goody gesagt, daß ihr Kind bei den Engeln im Himmel ist, aber es hat sie nicht getröstet. Überall hat sie nach dem Kind gesucht.«
       »Du bist eine mitleidige Seele, du Ärmster«, sagte Tobias und stand auf, um dem Mann etwas von dem Brot zu geben, das noch übrig war. Doch die Bewegung war zu plötzlich, und der Mann zuckte in seiner gehockten Stellung zurück und stand auf. Binnen eines Augenblicks war er verschwunden, und da waren nur noch die wabernde heiße Luft über dem Feuer und die rieselnden Schneeflocken und das Schaben der Schaufeln auf den Pflastersteinen, als man den Hof vom Schnee befreite.
       »Weg ist er«, sagte Martin. »Dieser Flint, von dem der Bursche sagte, daß er den Knaben gefunden hat … Wir müssen

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