Die Masken der Wahrheit
hegte keinen Groll gegen spätere Zeiten, da er nicht mehr auf der Welt sein würde, und eben deshalb war sein Blick ungetrübt. Vielleicht werden im Laufe der Zeit in allen menschlichen Gemeinschaften Veränderungen vor sich gehen. Daß es so sein kann, sehen wir am Benediktinerorden, in dem die Brüder sich nicht mehr an die Regel ihres Gründers halten, sondern in die Fremde reisen, so wie der Mönch, der die gestohlene Geldbörse gefunden hatte, Beichtvater des Barons war und bei den adeligen Herrschaften in der Burg wohnte. Wir sehen es auch am Ritterstand. Als wir dort rings um das Feuer saßen, nachdem die Entscheidung gefallen war, dachte ich wieder an jenen Ritter, wie er auf dem Rücken seines Pferdes langsam durch den Schneefall den Hügel heraufkam, den roten Atem der Bestie über seinem Kopf. Ich hatte den Reiter für den Tod gehalten, weiß jetzt aber, daß es sein eigener Tod war, den er gleichsam mit sich führte. Ich erinnerte mich an sein blasses Gesicht, seinen furchtlosen Blick, an die lange Narbe auf seiner Wange und an das weibische Viereck aus Seide, das seine prächtigen Gewänder vor der Berührung mit dem Schnee schützen sollte. Die Ritter sind ein Stand, der tötet; sie werden von Kindheit an im Gebrauch von Waffen und im Austeilen schlimmer Wunden unterwiesen. Doch wenn wir unseren Vätern glauben oder den Vätern unserer Väter, so hatte dieses Üben einstmals einen Zweck, wie das Proben bei den Schauspielern einen Zweck hat. Und so, wie es die Bestimmung des Teufelsnarren ist, den Teufel zu beschwichtigen, was ihm Freiheiten für seine Possen verschafft, so war es die Bestimmung eines Ritters, die Schwachen vor der Unterdrückung durch die Macht zu schützen und für Christus im Heiligen Land zu kämpfen; und das wiederum gab dem Ritter die Freiheit, den Tod zu bringen, sowie das Recht auf eigenen Grund und Boden. Vielleicht aber sagen die Väter unserer Väter nur, was sie zuvor von ihren Vätern gehört hatten, und es mag sein, daß die Ritter diese Rolle niemals gespielt haben; vielleicht hatte es die Kirche nur ausgestreut, um es sich auf diese Weise leichter zu machen, oder der König behauptete es, um eine Erklärung dafür zu haben, daß er den Rittern Ländereien übertrug. Die Ritter waren da, und deshalb mußte man ihnen irgendeine Aufgabe zuteilen. Doch wie dem auch sei: Falls sie einst eine Rolle zu spielen gehabt haben, so gilt das heute nicht mehr, nicht einmal in der Schlacht – es ist das gemeine Volk, das die Schlachten gewinnt, die Bogenschützen und die Pikeniere, wie es sich in unseren Tagen deutlich gezeigt hat, wogegen die Ritter und ihre Streitrosse in Blut schwimmen und gemeinsam abgeschlachtet werden. Und deshalb wenden sie sich den Turnieren zu. Sie putzen sich heraus, um im Spiel zu töten, so wie auch dieser Ritter sich herausgeputzt hatte.
Kapitel acht
ir hielten uns an Martins Plan. Ich verbrachte meine Zeit hauptsächlich zwischen den Ständen um das Marktkreuz und in einer Schenke in der Nähe. Zwar hatte es zu schneien aufgehört, doch die Wolken waren noch immer zum Bersten voll Schnee. So geschickt ich konnte, versuchte ich die Gerüchteküche anzuheizen, stets darauf bedacht, niemanden merken zu lassen, daß ich ein Fremdling in der Stadt war. In dieser Hinsicht hatte Martin sich geirrt; sobald ich Unkenntnis verriet, verstummten die Leute oder wandten sich von mir ab, so wie der Stallknecht es getan hatte. Es gab da irgend etwas, eine Furcht oder ein Mißtrauen, das die Leute am Reden hinderte – zum Beispiel, als ich einen Eierverkäufer fragte, ob die Frau, die des Mordes schuldig gesprochen war, das Verbrechen gestanden habe. Für einen Augenblick musterte der Verkäufer mich mit einem halbherzigen Lächeln, als hätte ich einen altbekannten Scherz gemacht. Dann wurde sein Gesicht verschlossen, und ungehalten wandte er den Blick ab.
Dennoch fand ich einiges heraus. Die bedeutsamste Feststellung war zweifellos, daß die Frau am Abend des Mordtages in der Nähe der Straße gesehen worden war – man war allgemein der Ansicht, der Knabe sei des Abends oder irgendwann im Laufe der Nacht getötet worden. Es gab da jemanden, der die Frau ziemlich nahe an jener Stelle der Straße gesehen hatte, an der man später den Knaben fand, und dieser Jemand war der Benediktiner, der am Morgen darauf zu dem Haus gegangen war und dort das gestohlene Geld gefunden hatte.
Dies erzählte ich den anderen, als wir wieder in dem Schuppen versammelt
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