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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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Benediktiner.« Ich hielt inne und genoß das Gefühl, das man empfindet, wenn man etwas Bedeutsames mitzuteilen hat. Ich war aufgeregt; das waren wir alle. Aufgeregt und ängstlich. Diese Dinge waren tatsächlich geschehen, und jetzt ließen wir sie mittels unserer Worte noch einmal geschehen, so, wie wir es später mit unseren Körpern tun würden. »Er sah sie an jenem Abend auf dem Gemeindegrund. Sie befand sich unweit der Straße, an jener Stelle, wo der Knabe gefunden wurde.«
       »Was hat sie dort getan?« fragte Stephen. »Hat sie dort auf Thomas Wells gewartet? Vielleicht hatte sie ihn kommen sehen. Das Gelände steigt dort an; man kann ein gutes Stück die Straße hinunterschauen. «
       »Weshalb sollte die Frau auf Thomas Wells gewartet haben?« fragte ich.
       »In diesem Fall hätte ja auch der Mönch den Knaben gesehen«, sagte Martin. Sein Gesicht zeigte wieder einen Anflug jenes entrückten Ausdrucks, so wie damals, als er uns zum erstenmal seine Idee dargelegt hatte. »Allem Anschein nach war der Holzsammler die letzte Person, die Thomas Wells lebend gesehen hat. Und der Mann befand sich ungefähr drei Meilen von der Stelle entfernt, an der man den Jungen fand.«
       »Das wird der Grund dafür sein, daß der Mönch zu dem Haus ging«, sagte Margaret, die sich nun das erste Mal zu Wort meldete. »Er hat die Frau unweit der Stelle gesehen, an der man die Leiche entdeckte. Als der Junge gefunden wurde, fiel dem Mönch wieder ein, daß er die Frau dort gesehen hatte, und er ging zu dem Haus, wo er dann das Geld fand.«
       Wenn wir uns an irgend etwas zu erinnern versuchen, ist es immer schwierig, sich auf genau jenen Zeitpunkt zu besinnen, an dem Dinge sich veränderten, eine Strömung heller oder dunkler wurde, Worte oder Blicke die Stimmung umschlagen ließen. Was mich angeht, so weiß ich noch, daß der Schatten sich in dem Augenblick niedersenkte, als Margaret sprach. Ich weiß noch, wie das Licht sich mit einem Male rötete, als wir am Feuer beisammen saßen, so, als würde der letzte schwache Schein der Flammen um uns herum verstreut, während draußen die Dunkelheit dichter wurde, und wir waren dieselben Menschen und dennoch anders. In diesem Augenblick erkannten wir, daß diese Geschichte nicht so einfach war, wie wir angenommen hatten. Die drei Dinge, die den Mönch betrafen und die zuvor für alles eine Erklärung zu bieten schienen – daß er die Frau gesehen hatte und daß er vom Tod des Knaben erfahren und das Geld gefunden hatte –, warfen mehr Fragen auf, als sie beantworteten.
       »Vielleicht haben noch andere die Frau gesehen«, sagte Martin bedächtig. »Auf jeden Fall ist der Grund und Boden dort Gemeindeland. Es könnte ein Dutzend Erklärungen dafür geben, daß die Frau dort war – und das hatte der Mönch gewußt.« »Wie kam es eigentlich, daß der Mönch dort auf der Straße war?« fragte Tobias.
       Stille breitete sich aus, und dann schluckte Straw und lachte, und sein Lachen klang laut in dem Schuppen. Er war stets sehr empfänglich für Stimmungen, mehr als jeder andere von uns; immer war er leicht erregbar und unstet wie eine Wetterfahne, die sich bald in diese, bald in jene Richtung dreht. »Wahrscheinlich war er in irgendeinem Auftrag des Barons dort draußen«, sagte er.
       Ich versuchte, mir das Gesicht des Mönchs vorzustellen, den ich nie gesehen hatte; ich versuchte, ihm Gestalt zu verleihen. Statt dessen stellten sich andere Gesichter ein: das von Martin, erleuchtet von seiner Idee; das käsige Gesicht des Geistesschwachen, als er die Namen der verschwundenen Kinder nannte; das hochmütige, narbige Gesicht des Ritters, als er unter seinem Baldachin an uns vorbeiritt. Mochte der Mönch auch im Auftrag des Barons unterwegs gewesen sein – er hatte es dennoch geschafft, eine Frau zu bemerken, die für einige Augenblicke auf dem Gemeindegrund zu sehen gewesen war, und sich an sie zu erinnern …
       »Wie wurde Thomas Wells ermordet?« Die Frage schien buchstäblich aus unserer Mitte aufzusteigen, und für einen Moment war schwer zu sagen, wer sie gestellt hatte. Es war Tobias gewesen, der Pragmatiker unter uns, der Vernunftmensch. »Auf welche Weise ist er zu Tode gekommen? « fragte er jetzt, und in seiner Stimme lag Ungeduld.
       »Wir wissen noch nicht …«, setzte Martin an.
       »Er wurde erwürgt«, sagte Margaret. »Thomas Wells wurde erwürgt. «
       Wir schauten sie an, wie sie so dasaß, die stämmigen Beine unter dem

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