Die Masken der Wahrheit
unscheinbaren braunen Rock gespreizt. Sie hatte ihr blondes Haar durchgekämmt und mit einem roten Band zusammengebunden.
»Woher weißt du das?« fragte Stephen, dem das Recht zustand, sie als erster zu fragen.
»Ich habe diesen Mann gefunden, diesen Flint«, sagte sie und reckte Stephen das Kinn entgegen – ein Ausdruck von Trotz, wie er sich oft in ihren Bewegungen zeigte. »Das ist der Mann, der die Leiche des Knaben entdeckt hat. Er ist Witwer, ein sehr sanfter Mann. Er lebt allein.« Für einige Augenblicke herrschte Schweigen in unserer Runde. Niemand wollte wissen, auf welche Weise Margaret diesem Flint die Auskunft entlockt hatte. Dann fragte jemand – ich glaube, es war wieder Stephen –, ob die Tat mit einem Strick begangen worden sei, und Margaret verneinte dies; der Mörder habe dem Knaben mit bloßen Händen das Leben genommen.
»Flint hat die Druckstellen gesehen, die von den Daumen stammten «, sagte sie. »Die Zunge hing dem Jungen heraus. Ansonsten lag er fein ordentlich auf dem Rücken am Straßenrand, abseits der Spur, auf der die Karren fahren.«
»Ein Junge von zwölf Jahren«, sagte Martin. »Der hätte doch um sein Leben gekämpft. Die Frau muß kräftig sein.«
»Vielleicht ist sie aus einem Versteck hervorgestürzt und über ihn hergefallen«, sagte Springer und blickte sich im Schuppen um, als könnte dieses Versteck hier drinnen sein.
Stephen schüttelte den Kopf. »Da draußen gibt es kein Versteck, das sich nahe genug an der Straße befindet. Das Waldgelände liegt unterhalb, und die Bäume stehen dort recht licht.«
»Vielleicht ist sie mit ihm tiefer in den Wald gegangen?«
»Weshalb sollte er mit ihr gehen?« fragte Tobias. »Und falls der Junge es getan hat, und die Frau hat ihn im Wald ermordet – weshalb hätte sie ihn dann wieder zur Straße schleifen sollen?«
Darauf wußte niemand eine Antwort, und wieder breitete sich Schweigen aus. Dann hob Martin den Kopf und schüttelte sich leicht, als wollte er ein Bild vertreiben, das ihm vor dem inneren Auge stand. »Das also ist die Geschichte«, sagte er, »jedenfalls, soweit wir sie kennen. Der Mann und die Frau gehen mit dem Jungen in das Dorf Appleton und verkaufen dort ihre Kuh. Der Mann fängt zu trinken an. Die Mutter gibt dem Jungen das Geld – nehmen wir an, in einer Börse – und trägt ihm auf, sofort damit nach Hause zu gehen und unterwegs mit niemandem zu sprechen. Der Junge macht sich auf den Weg, kommt aber nie zu Hause an. Ungefähr drei Meilen vor der Stadt wird er auf der Straße von einem Mann gesehen, der Holz sammelt. Die Frau wird auf dem Gemeindegrund gesehen, unweit der Stelle, wo der Junge später gefunden wird. Der Beichtvater des Barons sieht sie dort – dieser Mönch, der im Auftrag seines Herrn unterwegs ist. Sonst hat niemand die Frau gesehen. Das war am späten Nachmittag; der Einbruch der Dunkelheit war nicht mehr fern. Aber erst früh am nächsten Morgen wird der Knabe von diesem Flint gefunden. Der Junge wurde erwürgt, und von einer Geldbörse ist nirgends etwas zu sehen.« Er hielt inne und schaute Margaret an. »Was hat dieser Flint dort eigentlich getrieben?« fragte er.
»Er war zu dem Pferch unterwegs, in dem er seine Schafe hält«, erwiderte sie. »Er hat den Jungen über den Rücken seines Maultiers gelegt und ihn in die Stadt gebracht.«
»Später, am gleichen Morgen, erfährt der Mönch von dem Mord. Er macht sich auf den Weg zu dem Haus, in dem die Frau wohnt, und nimmt einige von den Leuten des Barons als Zeugen mit; so vermute ich jedenfalls. Er findet die Geldbörse. Das Mädchen wird ins Gefängnis gebracht. Am nächsten und am übernächsten Tag wird ihr im Gericht des Sheriffs – letztendlich dem Gericht des Barons – der Prozeß gemacht, und sie wird verurteilt. Das Urteil ist ergangen, aber gehängt ist sie noch nicht.«
Er schwieg einen Augenblick und starrte vor sich hin. Dann sagte er leise: »Dafür muß es irgendeinen Grund geben. Alles andere wurde mit sehr großer Eile betrieben, sogar die Bestattung des Jungen. Gestern schon kam er unter die Erde, kaum zwei Tage, nachdem man ihn gefunden hat. Uns kann das allerdings nur recht sein. Solange die Hinrichtung noch nicht stattgefunden hat, werden die Leute sich mehr für unser Stück interessieren. Wir werden es im Schatten des Galgenbaumes aufführen.«
So etwas konnte nur von Martin kommen; es lag eine Art Zielstrebigkeit darin, wie sie von
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