Die Masken der Wahrheit
eine Folge enger und spärlich beleuchteter Gänge zu den Privatgemächern, die sich auf der anderen Seite des Saales befanden. Im Vorübergehen warf ich einen Blick in einen dunklen Quergang, der von unserem eigenen wegführte. Im selben Augenblick öffnete sich ein Stück den Gang hinunter eine Tür; ein Strom aus Licht flutete hervor, und eine Gestalt trat hinaus in dieses Licht. Es war eine Frau, eine Nonne mit dichtem Schleier, so daß es unmöglich war, etwas von ihrem Gesicht zu sehen. Über die Ärmel ihres Ordensgewandes gelegt, trug sie Tücher, vielleicht auch Binden, von weißer Farbe. Ich sah diese Frau nur für einige Augenblicke; dann wurde die Tür geschlossen, das Licht erlosch, und die Frau schritt den Gang hinunter, fort von uns, und entschwand in der Düsternis. Doch in den wenigen Augenblicken, da die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde und das Licht kam und schwand und die Nonne in die Dunkelheit davonschritt, breitete sich dort ein dermaßen übler Gestank nach Fäulnis aus, daß ich mich beinahe erbrochen hätte; es war nicht der Geruch des Todes, sondern der von Krankheit, von vergiftetem Fleisch und verdorbenem Blut, von Verwesung des noch lebenden Leibes. Es war ein Geruch, den ich kannte, so wie alle ihn kennen und fürchten, welche diese Zeiten der Pest durchlebt haben. Wenn man diesen Odem in der Nase hat, erkennt man ihn als den Geruch der Welt. Er schrie gleichsam hinter uns her wie eine betrogene Kreatur; dann wurde er schwächer und erstarb.
Wir gingen durch einen Türbogen und gelangten in ein Vorzimmer; es war ein Gemach, das lang und breit genug war, ein Schauspiel darin aufzuführen; für ein größeres Publikum jedoch reichte er nicht aus. An dieses Gemach schloß sich eine Kammer mit geöffneter Tür an. Hier fanden wir, auf dem Fußboden aufgehäuft, unsere Kostüme und Masken vor.
In dem Raum selbst stand nur ein einziger Stuhl mit hoher Rückenlehne und gepolsterten Armstützen, kein weiteres Möbelstück oder sonst ein Gegenstand irgendwelcher Art. Wartend verharrten wir dort unter den Blicken des Verwalters, während die beiden Wachen sich mit aufgepflanzten Hellebarden dicht bei der Tür aufstellten. In diesen Augenblicken schien Martin, der den ganzen Tag einsilbig und ausdrucksleer gewesen war, sich gleichsam wachzurütteln. Ob Gedanken an unser Stück diese Wandlung bewirkten, vermag ich nicht zu sagen; jedenfalls war die Schauspielerei für ihn der Lebenssaft, und womöglich erhoffte er sich dadurch Erleichterung von seinem Liebesleid. Vielleicht aber war es ganz einfach so, daß er das Joch des Schweigens als zu drückend empfand. Aus welchem Grund auch immer – jetzt hob er den Kopf und schaute dem Verwalter in die Augen. »Ihr wart der einzige, der dabei war, als der junge Bursche begraben wurde«, sagte er. »Ihr habt den Priester bezahlt. Sagt uns, Freund, warum diese Eile?« Er hielt inne, ohne seinen durchdringenden Blick von dem Mann zu nehmen. Dann sagte er mit einer Stimme, die vor Verachtung schärfer klang: »Oder fragt Ihr Euch nicht einmal das?«
Durch Martins Worte wurden wir auf der Stelle wieder seiner Spielleitung unterstellt; selbst jetzt, da die Angst unter uns wuchs, wurden wir dazu angetrieben, Martin gleichsam wieder hinein ins Stück zu folgen. Der streitbare Stephen hob den Kopf und blickte den Verwalter an. Straw ließ sein schluchzendes Lachen hören.
Auf dem Gesicht des Verwalters spiegelte sich die Verblüffung darüber, daß ein Mann, der unter Bewachung stand und überdies bloß ein Schauspieler war, so mit ihm redete. »Vagabundierender Abschaum«, sagte er, »der ihr von Kirchengemeinde zu Kirchengemeinde gepeitscht werdet. Du wagst es, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Das wird dich dein Leben kosten.«
Springer klatschte in die Hände und ließ ein krähendes Gelächter ertönen. »Habt Ihr den Mönch aufgehängt?« fragte er.
»Was hat er denn verbrochen?« fragte Tobias.
Nun waren wir wieder im Stück und fragten den Aufseher so selbstverständlich aus, als würde er in irgendeiner Rolle mitspielen, so daß er uns zu antworten verpflichtet war. Wir befanden uns nun am Rande der Verzweiflung, und das löste unsere Zungen. Wir hatten die Hoffnung am Leben erhalten, indem wir uns an das Gewohnte geklammert hatten. Schauspieler werden manchmal in die Säle von Burgen und Schlössern gebracht, um dort aufzutreten – schließlich war unsere Theatertruppe zu eben diesem Zweck nach
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