Die Masken der Wahrheit
möglichen Urhebern des Ablebens zu stellen oder irgendwelche Zweifel anzumelden; mit anderen Worten: das Stück dort enden zu lassen, wo wir es aus Umsicht schon am Tag zuvor hätten enden lassen sollen. Dies war unsere einzige Hoffnung, und sie war dürftig genug. An die Rettung des Mädchens dachten wir jetzt nicht mehr. Was jedoch keiner von uns wußte: Martin war zu der Überzeugung gelangt, daß es keine Rettung für das Mädchen gab, und deshalb legte er auch keinen Wert mehr darauf, sich selbst zu retten.
Wir befolgten unseren Plan und hielten uns an die gemeinsam beschlossene Version der Geschichte, die wir nunmehr in der bedrückenden Stille des Gemachs vorführten, wobei der Baron und sein Verwalter unsere einzigen Zuschauer waren. Ich glaube, nie zuvor wurde ein Stück in einer solchen Stille und vor einem solchen Publikum aufgeführt. Ich sehnte mich nach dem Lärm des Wirtshaushofes und des Marktplatzes, nach dem Gelächter und den Zurufen des Publikums und den Bewegungen der Menge, aus denen die Empfindungen der Leute sprachen. Unsere Schritte erklangen hohl in dem kahlen Raum; wir bewegten uns vor und zurück wie in einem langsamen Tanz kürzlich Verstorbener, der vor dem Herrn der Verdammten auf seinem geisterhaften Thron getanzt wurde, mit dem Falken auf der Faust und dem gehorsamen Schranzen im Rücken, stets auf dem Sprung, jedem Befehl seines Herrn nachzukommen. Selbst unsere Stimmen erschienen uns zu Anfang unwirklich, wie Äußerungen unserer furchtsam zitternden Seelen. Doch indem das Stück von Thomas Wells sich entwickelte, gerieten wir mehr und mehr in den Bann unserer Rollen und begannen, für uns selbst zu spielen. Das Geheimnis, das den Tod des Jungen umgab, war noch immer frisch für uns. Dies war die dritte Aufführung, und wir beherrschten unsere Rollen jetzt besser, zumindest in der ersten Hälfte, bis zum Auftritt der Wahrheit, die wieder von Stephen gespielt wurde. Er hatte diesmal keine Zeit gehabt, sein Gesicht zu schminken, und die weiße Maske brauchte die Pietas; deshalb blieb Stephen keine andere Wahl, als sich eine dicke Maske aufzusetzen, die aus gepreßtem Papier und Leim bestand und silbern bemalt war. Durch diese Maske klang seine Stimme leicht gedämpft, doch immer noch sonor. Und er spielte gut – besser, als ich ihn je zuvor hatte spielen sehen. Er bewegte sich höchst würdevoll und mit großer Geste und trug seine Verse ohne Stocken vor:
»Ich bin die Wahrheit und hierher gekommen
An Gottes Statt und zu deinem Frommen …«
In einem Stück ohne niedergeschriebenen Text hängt vieles von plötzlicher Eingebung und zufälliger Entwicklung ab. Wahrscheinlich waren es Stephen und die Kühnheit seines Spiels, die Martin an diesem Abend auf jene Bahn lenkten, die ihn schließlich dazu führte, uns zu verraten und uns tödlichen Schrecken zu bereiten. Unmittelbar vor Avaritias Abgang sprach die Wahrheit direkt zum Publikum – wie alle Figuren, wenn sie ihre Eigenschaften kennzeichnen. In diesem Fall jedoch bestand das Publikum lediglich aus unseren beiden regungslosen Zuschauern. Doch unbeirrt sprach Stephen dieselben Worte, die ihm bereits tags zuvor eingefallen waren, als er die Rolle schon einmal gespielt hatte, betrunken und unkonzentriert. Diesmal allerdings trug er die Verse mit außergewöhnlicher Kraft und Überzeugung vor und begleitete sie mit dem Zeichen für ›Beharrlichkeit‹: die Hand mit den leicht gekrümmten Fingern wird vorgestreckt; Daumen und Zeigefinger berühren einander, und der kleine Finger wird abgespreizt:
»Die Wahrheit gibt nichts auf Gold und Geld,
Nichts auf die Macht aller Fürsten der Welt …«
Es war sonderbar und bewegend zu hören, wie die Wahrheit diese Worte mit tiefer Leidenschaft sprach; denn wir alle wußten, daß Stephen als Mensch große Stücke auf die Fürsten der Welt hielt, und diese reglose Gestalt, an die er seine Worte richtete, war ein reicher und mächtiger Adliger, Herr über Land und Leben. Stephen hatte sich gleichsam selbst vergessen; er spielte die Wahrheit nicht, er war sie. Und während ich am Rand unserer Bühnenfläche stand und auf den Augenblick wartete, da ich mit meiner Predigt über Gottes Gerechtigkeit an die Reihe kam, spürte ich, wie mir, ungeachtet der Furcht, die sich wie ein weiterer Schauspieler zwischen uns bewegte, Tränen in die Augen traten, als ich erlebte, wie Stephen, dieser sonst so unterwürfige Mensch, über sich hinauswuchs und mit tönender Stimme derart kühne
Weitere Kostenlose Bücher