Die Masken der Wahrheit
die eingetreten war, als der Baron sich erhoben hatte, klang seine Stimme klar und deutlich zu uns herauf. Was er sagte, wußten seine Zuhörer schon längst, doch er sprach mit würdevollem Ernst und achtete auf die Pausen, wie Martin es wahrscheinlich ausgedrückt hätte. Nur abgestumpfte Lanzen oder solche mit einer Schutzkappe durften benutzt werden. Wurde einer der Kontrahenten von der Lanze an Kopf oder Brust getroffen, galt der Kampf für ihn als verloren. Wurde er aus dem Sattel gestoßen, so verlor er sein Pferd als Preis an seinen Bezwinger. Einem zu Boden gestürzten Ritter durfte nur von seinem eigenen Knappen, der sein Zeichen trug, auf die Beine geholfen werden …
Die sonor klingende Stimme sprach weiter. Ich dachte an den Sohn des Lords, den jungen William, und meine Blicke schweiften über die Schar der Ritter hinweg, die auf ihren Schlachtrossen saßen, während ihre Knappen dahinter standen. Nirgends erblickte ich das Wappen der de Guise. Wieder fragte ich mich, was für ein Liebeskummer den jungen Herrn von den Turnierschranken fernhalten mochte. Aber vielleicht beabsichtigte er ja, später am Tag zu kämpfen oder gar erst morgen …
Mein Blick blieb auf einem Ritter haften, der einen sehr außergewöhnlich geformten Helm trug. Er bestand aus drei Teilen oder Stufen, wenn man so will: Über dem Visier befand sich ein Helmschmuck aus silberner Filigranarbeit; dieser wiederum wurde gekrönt von einem Stück, das die Form eines Bechers mit kannelierten Seiten aufwies; und aus diesem wiederum ragten die roten und weißen Federn des Helmbusches empor. Irgend etwas an dem Knappen, der hinter diesem Ritter stand, kam mir bekannt vor, obwohl er mir den Rücken zukehrte, genau wie sein Herr. Dann erkannte ich das Wappen auf dem Banner an der Lanze und am Halsstück des Pferdes: eine zusammengeringelte Schlange mit breiten blauen und silbernen Streifen, und ich wußte, daß dieser Mann jener Ritter war, der im Wirtshaus gewohnt hatte, unter seinem Baldachin aus Seide durch den Schnee geritten war und mir die heilige Furcht vor der Bestie eingejagt hatte. Es schien mir genau zu dem Eindruck zu passen, den ich von diesem jungen Ritter gewonnen hatte, daß er seinem Waffenschmied eine ordentliche Summe gezahlt haben mußte, damit dieser ihm einen Helm fertigte, der ganz anders aussah als der jedes anderen Ritters.
Sir Richard gelangte zum Ende seiner Rede, setzte sich und gab den Herolden ein Zeichen. Wieder schmetterten die Fanfaren, und wieder flatterten die Tauben empor und kreisten über uns. Nunmehr wurden Namen und Herkunft der ersten Kombattanten laut ausgerufen und die Symbole und Embleme auf ihrer Ausrüstung in aller Ausführlichkeit erläutert: die durch Heirat erworbenen Wappen; die Abzeichen, an denen die altersmäßige Reihenfolge von Söhnen aus vornehmer Familie zu erkennen ist; und die in Schlachten und sonstigen Waffengängen errungenen Ehrenzeichen – ein Vorgang, der viel Zeit in Anspruch nahm und den ich langweilig fand. Straw erging es offenbar nicht anders. Ungeachtet seiner Ängste – oder vielleicht auf der Flucht vor denselben – begann er, diese Bekanntgaben nachzuäffen, wobei er seine Hasenaugen weit aufriß und mit übertriebener Höflichkeit gestikulierte und redete. »Ihr edlen Herren und vornehmen Damen, hier ist der tollkühne Springer«, sagte er, »Herr über kein Fleckchen Land, Sieger in keiner Schlacht außer der gegen das Verhungern, und selbst die ist noch längst nicht gewonnen. Aber ich wette, er kann seine Beine höher werfen und sich schneller auf den Fersen drehen als irgendeiner von Euch.«
Wie bei ihm üblich, nahm Tobias einen eher nüchternen und praktischen Standpunkt ein. »Wie ihr seht, tragen diese Streiter auch die Wappen ihrer Waffenschmiede«, sagte er. »Sie werden gut dafür bezahlt; denn die Hersteller von Kettenhemden und Plattenpanzern bekommen auf diese Weise eine Menge Kundschaft.«
Diese Unterbrechungen ärgerten Stephen, der den Ausführungen der Herolde aufmerksam gelauscht hatte und ab und zu Ausrufe der Bewunderung und des Erstaunens von sich gab. »Pssst!« machte er nun. »Das da ist der zweite Sohn von Sir Henry Bottral. Sein Vater hat in die Familie Sutton eingeheiratet – wie ihr seht, hat er das Wappen der Suttons mit dem seinen vereint.«
Derweil ließen die Ritter ihre Pferde tänzeln, wandten ihre eisernen Masken von einer Seite zur anderen und streckten zum Entzücken der Damen unter dem Saum
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