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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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Worte hinter seiner Maske sprach.
     Doch wieder einmal war es Martin, der alles änderte. Die Wahrheit hatte ihre Fragen gestellt; die Menschheit und Thomas Wells hatten ihre ersten Antworten gegeben, und Straw, hinter den Umhängen der Pietas und der Avaritia verborgen, hatte sich die Mord-Maske aufgesetzt. Martin, noch immer als Avaritia gekleidet und maskiert, bewegte sich nach vorn, zur Mitte der Bühnenfläche, um seine Abschiedsworte zu sprechen. Er begann wie zuvor:
 »Was will die Habsucht hier, an diesem Ort,
     Wo eines Schurken Hand beging den Mord …«
    Doch statt Avaritia abtreten zu lassen, indem er sich des Umhangs und der Maske entledigte, wie er es am Tag zuvor getan hatte, um dann in eigener Person die Wahrheit zu befragen und das Stück zu einem Schluß zu bringen, der uns ein wenig Hoffnung auf Gnade ließ, vollführte Martin wieder jene übertriebene Geste der Ehrerbietung mit dem tiefen Schwenk der rechten Hand. Dann entfernte er sich rückwärts gehend, den Oberkörper noch immer vor der sitzenden Gestalt gebeugt, und verschwand, ohne uns anderen irgendein Zeichen zu geben, in der Kammer im hinteren Teil.
       Dieser Abgang Avaritias traf uns andere vollkommen überraschend, und für einige Augenblicke wußten wir nicht, wie wir fortfahren sollten. Dann aber fand die Menschheit ihre Fassung wieder und stellte jene Frage, die eigentlich von Martin hätte kommen sollen:
 »Wie kam dies Kind dorthin? O Wahrheit, ist bekannt,
     Wie’s kam, daß dies fünfte Kind man fand?« 
    Stephen hatte aus seinen Fehlern von gestern gelernt, und diesmal hatte er eine Antwort parat: »Wenn die Wahrheit spricht, soll kein Mensch widerstreiten«, sagte er. »Des Geldes wegen nahm man den Knaben mit und legte ihn tot darnieder.«
       »Mein Mörder wollte, daß man dem Weber die Schuld gab«, sagte Thomas Wells mit seiner hohen Stimme. »Der Mönch war’s.«
       Jetzt war für Tobias die Zeit gekommen, sich zurückzuziehen, sich rasch umzukleiden und in dem kurzen Umhang und mit dem gefiederten Hut des Boten sofort wiederzukehren, um uns die Nachricht vom Erhängen des Mönchs zu überbringen. Er hatte sich schon in Bewegung gesetzt, als er plötzlich innehielt, weil Martin wieder erschienen war, noch immer in seinem roten Umhang, nun aber in der wahrhaft furchterregenden Maske der Superbia, die gleichfalls rot ist; nur die geschwungenen Linien des Mundes und die erschreckenden Wülste der Brauen sind mit schwarzer Farbe bemalt.
       Er bedeutete Tobias, weiterzumachen und sich zu beeilen. Dann trat er zwischen uns und hob die Arme seitwärts bis in Schulterhöhe, die Handflächen in jener Geste nach außen gedreht, welche die Figuren immer dann vollführen, wenn sie sich vorstellen. Für einige Augenblicke verharrte er in dieser Haltung, die Maske dem sitzenden Baron und dem Verwalter zugewandt, der hinter seinem Herrn stand. So verschaffte er Tobias Zeit zum Umkleiden. Keiner von uns bewegte sich. Ich stand nahe bei Straw und hörte sein verängstigtes, keuchendes Atmen durch das Mundstück seiner Mord-Maske. Dann begann Martin mit den Worten seiner Selbstbeschreibung:
 »Ich bin der Hochmut, wie jedermann sieht.
     Solange ich hab’ die Oberhand,
     Was schert mich Priester- und Laienstand?« 
     Nun kam der Bote mit dem gefiederten Hut eilig herbei. »Edle Herren «, sagte er. »Ich bringe Neuigkeit. Der Mönch ist tot, er wurde erhängt. «
       Voller Eifer – weil wir immerhin auf diese Szene vorbereitet waren – versuchten wir, den Schauplatz mit reger Bewegung und lebhafter Rede zu erfüllen, und vor lauter Bemühen geschah es, daß mitunter zwei Personen gleichzeitig sprachen, und unsere Bewegungen waren viel zu hastig, und wir behinderten mit unseren Körpern die Sicht der Zuschauer. Abstimmungsfehler in Bewegung und Wechselrede, hätte Martin dazu gesagt. Wir wußten nicht mehr, wohin das Stück sich entwickelte; wir ertranken darin; wir mußten die Worte gleichsam aus den Nichts haschen, wie Ertrinkende nach Luft schnappen.
       Superbia stolzierte langsam über die Bühnenfläche, reckte den Hals und machte die Gesten, mit denen man ›Herrschertum‹ und das triumphale Vorankommen bezeichnet; er bewegte sich wie ein widerlicher Fremder zwischen uns. Straw machte einen letzten Versuch, uns und das Stück zu retten und zuwege zu bringen, worauf wir uns zuvor geeinigt hatten: den Schluß des Stückes. Er hatte die Mord-Maske abgenommen; sein Gesicht unter der grellen Perücke war

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