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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Sie nicht. Ich kann Ihnen sagen, womit Sie es hier zu tun haben. Ist Ihnen etwas an dem Projektil aufgefallen?»
    «Das helle Metall an der Spitze.»
    Dr. Lionardo nickte. «Das ist Blei. Ich vermute, dass es sich um einen Verschluss handelt.»
    Tron runzelte die Stirn. «Ein Verschluss?»
    Dr. Lionardo überlegte kurz. Dann bückte er sich, entnahm dem Arztkoffer ein Skalpell und fing an, kleine hellgraue Späne von der Spitze des Projektils zu schälen.
    Schließlich hielt er inne und nickte befriedigt. «Sehen Sie den kleinen Tropfen?»
    Tron setzte seinen Kneifer auf und konnte tatsächlich einen winzigen, metallisch glänzenden Tropfen an der Spitze des Projektils erkennen. «Was ist das?»
    «Quecksilber.» Dr. Lionardo fand offenbar Gefallen daran, sich als Waffenexperte zu präsentieren. «Dieses Projektil explodiert, wenn es auf einen Widerstand trifft.»

    «Wer verwendet solche Munition?»
    «Jemand, der sein Ziel nicht nur beschädigen, sondern zerstören will», sagte Dr. Lionardo.
    Bossi mischte sich ein. «Also handelt es sich nicht um Jagdmunition.»
    Dr. Lionardo schüttelte den Kopf. «Auf keinen Fall. Das Projektil reißt faustgroße Löcher in das Ziel, es würde das Fleisch des Tieres ungenießbar machen. Aber es ist die ideale Munition, um ein Lebewesen zu töten, das man anschlie ßend weder verspeisen noch als Trophäe konservieren will.»
    «Und aus welchen Waffen wird so ein Projektil abgefeuert?»
    «Aus Jagdwaffen mit langen Läufen. Oder aus Scharfschützengewehren. Admiral Nelson ist mit einer solchen Waffe von französischen Marinescharfschützen getötet worden.»
    Tron war erstaunt. «Woher wissen Sie das alles, dottore ?»
    Dr. Lionardo lächelte matt. «Ich war neunundfünfzig für ein paar Monate Stabsarzt. Bei Solferino sind auf der franzö sischen Seite die Chasseurs de Vincennes beteiligt gewesen.
    Daher weiß ich, wie solche Projektile aussehen.»
    «Die Chasseurs haben Explosivgeschosse benutzt?»
    Dr. Lionardo schüttelte den Kopf. «Das haben sie nicht.
    Aber es hat sich um Scharfschützen gehandelt. Und die haben ähnliche Projektile benutzt.»
    «Wie genau trifft ein guter Scharfschütze?», erkundigte sich Tron.
    Dr. Lionardo machte ein nachdenkliches Gesicht. «Er trifft aus einer Entfernung von hundert Metern eine Spielkarte.»
    «Ein Scharfschützengewehr wäre also die perfekte Waffe für einen Attentäter.»
    Dr. Lionardo nickte. «Sie sagen es, Commissario.»

    Als Tron und Bossi eine halbe Stunde später in der Gondel saßen, um sich in die Questura bringen zu lassen, hatte sich der Nebel verstärkt. Er trieb in dunkelgrauen, undurchsichtigen Bänken über die kabbeligen Wellen des Giudecca-Kanals und gab nur hin und wieder den Blick auf das andere Ufer frei: auf die Gesuati, auf die Masten der Schiffe, die an den Zattere festgemacht hatten, und auf die Kuppel der Salute. Erst nachdem sie die Zollstation passiert hatten und sich anschickten, die Mündung des Canalazzo zu überqueren, brach Bossi das Schweigen, in das sie beide versunken waren.
    «Wie gut kannten Sie diesen Zorzi, Commissario?»
    «Eigentlich überhaupt nicht. Zorzi musste nach der  Wiedereroberung der Stadt durch die Österreicher ins Exil nach Turin und ist erst Mitte der fünfziger Jahre wieder nach Venedig zurückgekehrt. Wir haben uns dann kaum noch gesehen.»
    Bossi seufzte. «Trotzdem hatten Sie recht.»
    «Und Sie hatten recht, ihn für verdächtig zu halten», sagte Tron. «Es passte einfach alles zusammen. Die Informationen, die uns Holenia gegeben hat, und dieser merkwürdige Zufall, dass Zorzi ausgerechnet am Sonntag den Nachtzug von Verona nach Venedig benutzt hat. Dass noch eine zusätzliche Figur im Spiel war, konnten wir nicht ahnen.»
    «Der große Unbekannte.»
    Tron nickte. «Als Erstes tötet er den Mann, der den  Sprengstoff nach Venedig bringen wollte. Dann Ziani, vielleicht, weil er misstrauisch geworden ist. Und schließlich Zorzi.»
    «Was genau hat Zorzi gesagt, als er Sie bat, ihm noch den Nachmittag und den Abend zu geben?»
    «Dass er etwas herausfinden könne, das den Fall löst», sagte Tron. «Und dass er dafür den Rest des Nachmittags und den Abend brauche.»
    «Offenbar hatte er vor, diesen Mann zu treffen.»
    «Vielleicht auf der Patna, vielleicht aber auch in der Wohnung des Mannes. Vermutlich eher da, denn er scheint sein Quartier durchsucht zu haben. Dabei könnte er eins der Projektile und das Papier eingesteckt haben und von dem Mann überrascht worden

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