Die Masken von San Marco
Leinen, ließ die Hanteln, die sie im Liegen gestemmt hatte, auf die lederüberzogene Korkmatte fallen und richtete sich auf. Der Regen, der seit den frühen Morgenstunden an die Fenster der Hofburg getrommelt hatte, war schwächer geworden. Wenn sie die Augen schloss, war nur ein sanftes Rauschen zu hören, ein tröstliches Geräusch, das sie an Sommerregen in Possenhofen erinnerte und ihr einen Moment lang die Illusion verschaffte, wieder daheim am Starnberger See zu sein.
Sie erhob sich mit einer schwerelosen Bewegung und trat vor einen der beiden riesigen Spiegel, die an den Wänden ihres Turnkabinetts angebracht waren, verschränkte die Hände hinter dem Nacken und drehte sich langsam zur Seite. Die enganliegende Turnkleidung – eine kurze Tunika, dazu eine Hose aus feinster Kaschmirwolle – ließ sie fast unbekleidet erscheinen. Befriedigt stellte sie fest, dass ihr Körper immer noch einwandfrei war: der Bauch flach, Beine und Arme auf angenehme Weise muskulös, dazu eine Taille, die ihresgleichen suchte.
Dass Franz Joseph ein Faible für Frauenzimmer besaß, die zu gemütlicher Fülle neigten, wusste Elisabeth, und manchmal fragte sie sich, ob ihre obsessive Turnerei nicht auch den Sinn hatte, das Bedürfnis des Kaisers nach intimen Annäherungen in Grenzen zu halten. Sie jedenfalls hatte diesen Teil ihrer Ehe in den letzten Jahren immer unverhohlener als unangenehme Pflicht behandelt und jede Gelegenheit genutzt, sich ihren ehelichen Pflichten zu entziehen. Seltsam eigentlich, überlegte sie weiter, dass Franz Joseph sie immer noch liebte. Oder tat er nur so, weil er gegenüber seiner Mutter nicht zugeben wollte, dass es ein Fehler gewesen war, sich damals in Ischl für sie entschieden zu haben und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, für ihre Schwester Helene? Und ihre eigenen Gefühle? War es wirklich Liebe gewesen, die sie in Ischl für Franz Joseph empfand, oder hatte es sich lediglich um die kindischen Schwärmereien eines Backfischs gehandelt? Doch was immer es gewesen war, dachte Elisabeth – es hatte sich mit jedem Tag, an dem sie erwachsener wurde, aufgelöst wie ein Stückchen Zucker in einer Tasse Tee.
Sie wandte sich seufzend vom Spiegel ab und ließ den Blick über ihr Turnkabinett schweifen. Da war der Barren, die Reckstange, die von der Decke herabhängenden Ringe, die Hanteln mit verschiedenen Gewichten und schließlich die Waage mit der darüber angebrachten großen Tabelle, in der sie ihr Gewicht und den Umfang ihrer Taille notierte.
Alle Welt war davon überzeugt, dass sie sich an den Gerä ten quälte, um ihre Figur und ihre legendäre Schönheit zu konservieren. Aber das stimmte nicht. Oder es stimmte nur zum Teil, denn noch etwas anderes spielte eine Rolle. Elisabeth hatte entdeckt, dass die Konzentration auf ihren Körper alle anderen Gedanken in ihrem Gehirn auslöschte: die Gedanken an ihre Gefangenschaft in der Hofburg, an das Schlangennest der Hofgesellschaft und nicht zuletzt die Gedanken an ihre fehlgeschlagene Ehe.
Als sie sich gerade dem Stufenbarren näherte, klopfte es, und an der Tür zeigte sich das Gesicht Ida Ferenczys, ihrer Vorleserin und Vertrauten. In der Hand hielt sie ein Stück Papier. Ihre Miene verriet Unbehagen.
«Was gibt es?»
Das hübsche Gesicht ihrer Vorleserin war rot vor lauter Verlegenheit. «Ein Billett des Kaisers.»
Elisabeth musste unwillkürlich lächeln. Offenbar hatte jemand, der selbst nicht den Mut aufbrachte, sie zu stören, der armen Ferenczy befohlen, das Billett zu übergeben.
War es Oberst Crenneville? Oder dieser intrigante Grünne?
Sie konnte den einen ebenso wenig ausstehen wie den anderen.
«Was will der Kaiser?» Eine sinnlose Frage. Selbstverständlich kannte die Ferenczy den Inhalt des Billetts nicht.
Die Ferenczy hob verlegen die Schultern. «Das Billett ist versiegelt.»
«Dann brich das Siegel auf. Sag mir, was er schreibt. Und komm rein.»
Elisabeth bückte sich nach einem Handtuch, um es auf Nacken und Oberarme zu breiten. Im Turnkabinett wurde niemals geheizt. Sobald sie aufhörte, sich an den Geräten zu plagen, wurde ihr kalt.
«Seine Majestät schreibt, dass er Ihre Hoheit sprechen möchte», sagte die Ferenczy, nachdem sie den Brief überflogen hatte.
«Er sieht mich heute Abend beim Diner.»
Die Ferenczy schüttelte den Kopf. «Seine Majestät möchten Hoheit früher sprechen.»
«Und wann?»
«Seine Majestät möchten Hoheit um elf in der Suite Ihrer Hoheit sprechen.»
Wie bitte? In einer
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