Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
Bärenfellsack zu ziehen, und klappte den Likörkasten auf dem kleinen Tisch neben dem Schreibtisch auf. Nach einigem Nachdenken entschied er sich für Crème de Cacao, eigentlich ein Damenschnaps; aber französischer Cognac würde ihn unweigerlich an Napoléon erinnern – an den Ersten und auch an seinen betrügerischen Neffen.
    Der vom Polizeipräsidenten Spaur persönlich verfasste Bericht, den er kurz nach seiner Ankunft im Palazzo Reale erhalten hatte, war eine wahre Labsal. Er hatte ihn soeben das vierte Mal gelesen – drei Kanzleibogen mit vorschriftsmäßigem Heftrand –, und jedes Mal erfüllte ihn die Lektüre mit tiefer Befriedigung. Der tückische Anschlag war vereitelt, das Sprengmittel vernichtet und die starke Nervenbelastung, unter der er heimlich gelitten hatte, endlich beseitigt.
    Rückblickend war die Reise von Wien nach Venedig – sah man von einem leichten Migräneanfall der Kaiserin ab – außerordentlich harmonisch verlaufen. Sie hatten die Nacht im kaiserlichen Waggon der Südbahn verbracht, heute Morgen in Triest die Raddampferyacht bestiegen, und ein stetiger, wenn auch etwas kalter Ostwind hatte die Adriafahrt bei strahlendem Wetter begleitet. Kurz nach vier hatte die kaiserliche Yacht, flankiert von der Dampferfregatte Prinz Eugen, die Einfahrt zur Lagune passiert. Eine halbe Stunde später, im Becken von San Marco, hatte sich Franz Joseph dann das Bild geboten, das ihn trotz der notorischen Unbotmäßigkeit seiner Bewohner immer wieder entzückte: der Glockenturm, die Seufzerbrücke, die beiden Säulen mit dem Löwen und dem Heiligen, die prunkend hervortretende Flanke des Dogenpalasts, schließlich, kurz vor dem Anlegemanöver, der Durchblick auf Tor und Riesenuhr. Und hinter den auf dem Molo wartenden Würdenträgern hatte sich eine erstaunlich große Zahl von Venezianern eingefunden, die in fast militärisch klingende Hurrarufe ausgebrochen waren, als er seinen kaiserlichen Fuß auf den Kai gesetzt hatte.
    Alles dies hatte ihn in eine gehobene, fast euphorische Stimmung versetzt – die passende Verfassung für ein halbes Dutzend Empfänge und Audienzen, die erst vor einer knappen Stunde zu Ende gegangen waren. Franz Joseph  legte den Bericht, den er noch immer in der Hand gehalten hatte, auf den Schreibtisch zurück, bog seinen Oberkörper nach rechts und öffnete den Likörkasten ein weiteres Mal.
    Diesmal wählte er – sich über kleinliche Bedenken souverän hinwegsetzend – einen französischen Cognac, füllte das Likörglas bis zum Rand, trank es in einem Zug und genoss die Hitze, die in seinem Magen explodierte.
    Er schloss die Augen und stellte ohne Überraschung fest, dass seine Bangigkeit verflogen war und er sich bereits auf die schwierige, aber glänzende Rolle, die er vor den Augen der Welt spielen würde, freute. Ob er sich schützend vor die Kaiserin werfen sollte, wenn die Schüsse fielen? Oder reichte es aus, gelassen in die Feuerlinie zu treten und kaltblütig Befehle zu erteilen, während die hohen Offiziere und die Honoratioren herumliefen wie aufgeschreckte Hühner?
    Und sollte er, wenn alles vorüber war, der Kaiserin gegenüber seine Karten aufdecken? Ihr erklären, was sich wirklich zugetragen hatte? Denn es war nicht auszuschließen, dass sein raffinierter Plan sie noch mehr beeindrucken würde als militärisches Heldentum, dem sie, wie er wusste, mit einer weiblichen Skepsis gegenüberstand. Denkbar war allerdings auch, dass die Kaiserin sowohl das eine als auch das andere missbilligen würde, es also am klügsten sein mochte, Stillschweigen zu bewahren. Andererseits kam immer alles heraus. Es war schwer möglich, etwas vor ihr geheim zu halten.
    Franz Joseph zog die Füße aus dem Bärenfellsack,  schwenkte sie auf den kalten Terrazzofußboden und erhob sich. Einen Moment lang blieb er, die rechte Hand auf den Tisch stützend, stehen und ließ seinen Blick durch das Arbeitszimmer schweifen. Da war die Sitzgruppe, bestehend aus drei Sesseln, einer schadhaften Causeuse und einem Tisch davor, auf der eine weitere Petroleumlampe brannte.
    An der anderen Wand seines Arbeitszimmers stand der klobige Geldschrank, auf den eine vermutlich weibliche Hand eine Schale mit Konfekt, Tragantkringeln und Zuckerplätzchen gestellt hatte, ahnungslos, welcher Schatz der Tresor in seinem Inneren verwahrte.
    Elf Glockenschläge schallten über die Piazza, und im selben Moment hörte Franz Joseph Schritte im angrenzenden Audienzzimmer. Es klopfte, ein Türflügel öffnete

Weitere Kostenlose Bücher