Die Matlock-Affäre
verrückt. Und in Gefahr.«
27
Wenn man den weißen Stationwagon und seinen Fahrer auf die Stadtmitte von New Haven zurollen sah, hätte man denken können - wenn man überhaupt dachte -, daß es ein prächtiger Wagen war, einer wohlhabenden Vorstadt angemessen, mit einem Mann am Steuer, dessen Aussehen und dessen Gesichtszüge zu dem Fahrzeug paßten.
Ein solcher Beobachter konnte nicht wissen, daß der Fahrer den um ihn ablaufenden Verkehr kaum wahrnahm, daß er von den Enthüllungen wie benommen war, die er in der letzten Stunde in sich hatte aufnehmen müssen; ein erschöpfter Mann, der achtundvierzig Stunden lang nicht mehr geschlafen hatte, der das Gefühl hatte, an einem dünnen Seil über einem unendlichen Abgrund zu hängen und sich festzuhalten, ein Mann, der jeden Augenblick damit rechnete, daß man diese sein Leben bewahrende Leine durchschnitt und ihn in den endlosen Nebel stürzte.
Matlock gab sich redlich Mühe, alle Denkprozesse, derer er fähig war, in der Schwebe zu halten. Die Jahre, ganz speziell die Monate, in denen er sein akademisches Rennen gegen selbstauferlegte Zeitpläne gerannt war, hatten ihn gelehrt, daß der Geist - zumindest sein Geist - nicht richtig funktionierte, wenn Erschöpfung und ein Übermaß neuer Eindrücke zusammenkamen.
Und daß er funktionierte, war jetzt wichtiger als alles andere.
Er befand sich in Gewässern, die ihm völlig unbekannt waren, gleichsam kartographisch noch nicht erfaßten Gewässern. Einem Meer mit winzigen Inseln, die von grotesken Bewohnern bevölkert waren: Julian Dunoises, Lucas Herrons, die Bartolozzis, die Aiellos, die Sharpes, die Stocktons und die Paces. Die Vergifteten und die Vergifter.
Nimrod.
Kartographisch nicht erfaßte Gewässer?
Nein, das waren sie nicht, dachte Matlock.
Sie waren durchaus befahren. Und die Reisenden waren die Zyniker des Planeten.
Er fuhr zum Sheraton Hotel und nahm sich ein Zimmer.
Er setzte sich auf den Bettrand und meldete ein Telefongespräch für Howard Stockton im Carmount an. Stockton war nicht im Hause.
In brüskem, arrogantem Ton erklärte er der Vermittlung im Carmount, daß Stockton zurückrufen solle - er sah auf die Uhr, es war zehn Minuten vor zwei -, und zwar in vier Stunden. Um sechs Uhr. Er gab die Nummer des Sheraton Hotels an und legte auf.
Er brauchte wenigstens vier Stunden Schlaf. Er wußte nicht, wann er wieder schlafen würde.
Dann nahm er noch einmal den Hörer ab und verlangte, daß man ihn um dreiviertel sechs wecken solle.
Während sein Kopf ins Kissen sank, hob er den Arm an die Augen. Durch den Stoff seines Hemdes spürte er seine Bartstoppeln. Er würde zum Friseur gehen müssen; er hatte seinen Koffer in dem weißen Stationwagon gelassen. Er war zu müde gewesen, zu durchgedreht, um daran zu denken, ihn mit ins Zimmer zu nehmen.
Das dreimalige kurze Klingeln des Telefons zeigte, daß das Sheraton seine Instruktionen erfüllte. Es war genau Viertel vor sechs. Fünfzehn Minuten später klingelte es wieder, diesmal länger, normaler. Es war genau sechs, und der Anrufer war Howard Stockton.
»Ich will es kurz machen, Matlock. Sie haben einen Kontakt. Nur, daß er sich nicht mit Ihnen im Sail and Ski treffen will. Sie gehen an den Osthang - der steht im Frühjahr und im Sommer den Touristen zur Verfügung, damit sie die Landschaft bewundern können - und nehmen den Lift nach oben. Seien Sie um halb neun Uhr heute Abend dort. Er wird einen Mann oben haben. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Mich geht das nichts an!«
Stockton knallte den Hörer auf die Gabel. Das Echo hallte in Matlocks Ohr.
Aber er hatte es geschafft! Er hatte es geschafft! Er hatte den Kontakt zu Nimrod hergestellt! Zu der Konferenz.
Er ging den finsteren Weg zum Skilift. Zehn Dollar machten dem Helfer auf dem Parkplatz des Sail and Ski sein Problem begreiflich: Der nette Mann in dem Stationwagon war verabredet. Der Ehemann würde erst viel später kommen - was zum Teufel, so war das Leben eben. Der Parkwächter war sehr hilfsbereit.
Als er den Osthang erreichte, begann der Regen, der den ganzen Tag gedroht hatte. In Connecticut waren AprilRegengüsse irgendwie immer Maigewitter, und Matlock ärgerte sich, daß er nicht daran gedacht hatte, sich einen Regenmantel zu kaufen.
Er sah sich an dem verlassenen Lift um, dessen hohe, doppelte Leinen sich deutlich vor dem immer stärker werdenden Regen abzeichneten und wie dicke Hanftaue in einem nebligen Hafen glänzten. In der Hütte, welche die
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