Die Maya-Midgard-Mission
NebelGeist konnte ein Haus bauen ganz ohne Skizzen oder Pläne, weil er das Bild der fertigen Behausung im Geiste mit sich führte. Aber wie konnte Ragnar Eise nfaust das Bild eines Weges im Geiste haben, der ihn zielgenau über eine konturlose gleichförmige Wasserwüste trug und das für die Dauer vieler Tage und Wochen?
Ragnar Eisenfaust lachte und schüttelte seine Feuermähne. "Schau her, Freund! Diese Scheibe ist eine der Antworten." Er legte die hölzerne Scheibe mit einer eingeschnitzen Sonne, die ihre zackigen Strahlen in alle Himmelsrichtungen verteilte, in eine große, flache mit Wasser gefüllte Schüssel und blickte sein Gegenüber an.
NebelGeist sah, aber begriff nicht. "Wie kannst du uns jedes Mal finden, Ragnar? Dein Land aus Feuer und Eis ist von meinem Land durch einen Ozean von Wasser getrennt. Du hast es mir mehr als einmal wortreich beschrieben. Aber wie findest du deinen Weg durch dieses Meer. Es gibt keine Berge, keine Wälder, keine Wege, keine Lichtungen, keine Städte und keine Menschen. Da ist nichts und niemand, den du fragen könntest. Nur die Sterne. Also wie?"
Ragnar Eisenfaust lachte, dass sein Bart in der Sonne hüpfte und rötl iche Strahlen widerspiegelte. "Du hast zwar die Fische vergessen, Freund, aber mit den Sternen liegst du gar nicht so falsch. Ich benutze sie tatsächlich, um die Richtung meiner Reise festzulegen und jeden Tag aufs Neue zu überprüfen. Aber am liebsten beschäftige ich mich mit einer alten Freundin, die sich auch eurer besonderen Zuneigung gewiss ist: mit der Sonne. Sie weist mir immer den Weg. Ich muss nur ihre Sprache verstehen lernen. Das ist alles."
NebelGeist setzte sich auf eine Taurolle und lehnte sich an den gr oßen Mast. Das glatte, kühle Holz vermittelte ihm ein festes Gefühl auf dem ansonsten schwankenden Schiff. "Dann bist du ein weiser Mann, ein Gelehrter, wie unsere Sternen-Priester. Wer mit der Sonne spricht, versteht das Leben, sagt ein Sprichwort meines Volkes."
Ragnar lachte wieder. Rau und unbekümmert. "Ich weiß nicht, ob ich sonderlich weise bin. Jedenfalls bin ich nicht zu dumm, diese Hilfsmittel zu benutzen, wenn ich die Sonne frage, wo ich mich mit meinem Boot befinde." Er deutete auf die Wasserschüssel mit der hölzernen Sonnenscheibe und nahm einen weiteren Gegenstand aus einer Kiste neben der Ruderpinne des Langboots. "Manchmal ist die Sonne von Wolken verhüllt oder ein dichter Nebel verhindert, dass wir ihre Strahlen sehen. Für diesen Fall habe ich diesen Sonnenstein."
Ragnar drückte NebelGeist einen gelb schimmernden Stein von der Größe eines Krokodileis in die Hand. Der Stein fühlte sich kühl und geschmeidig an. Aber ansonsten konnte NebelGeist nichts Besonderes an ihm feststellen. "Was musst du tun, damit er dir deinen Weg verrät?", fragte er.
Ragnar nahm den gelben Sonnenstein an sich und hielt ihn in einem Winkel von ungefähr 90° ins Sonnenlicht. Sofort ve rfärbte der Stein sich dunkelblau. Ragnar grinste breit. "Das tut er auch, wenn mein und dein Auge keinen Sonnenschein erkennen kann. Ich muss ihn nur solange drehen, bis er sich verfärbt, dann weiß ich wo die Sonne ist. Der Rest ist einfach. Das funktioniert sogar, wenn die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden ist. Ohne diesen Sonnenstein hätte ich den Weg zu euch nie wieder gefunden", vollendete Ragnar Eisenfaust seine Erklärung.
NebelGeist nickte nachdenklich. "Dein Sonnenstein ermöglicht es uns, die Bücher der Sieben Sonnen in Sicherheit zu bringen. Ich wusste, dass die Sonne ihre Kinder beschützt."
Ragnar schlug die geballten Fäuste ineinander. "Kann schon sein, mein Freund. Aber auf die launische Dame alleine würde ich mich nicht verlassen. Dein Caupolican, meine dreißig Wikinger und die gute Seeziege hier", Ragnar klopfte mit der flachen Hand auf die Beplankung eines Seitenbords, "die haben alle kräftig mitgewirkt an eurer gelungenen Flucht. Bald werden meine Männer die Ruder einholen, das Segel heißen, und dann müssen wir Kurs auf euer neues Land setzen. Dort drüben, wo morgen früh die Sonne aufgeht, da liegt es mitten im Meer."
NebelGeist schaute dem ausgestreckten Arm seines Freundes hinte rher. Aber außer den glitzernden Wellen, der gleißenden Sonne und ein paar majestätisch kreisenden Seevögeln konnte er nichts sehen. Noch nicht.
Die überlebenden Soldaten des Priesterkönigs SchlangenVogel keh rten unverrichteter Dinge nach Toxtlipan zurück. Ihre Schreckensberichte von einem furchterregenden Heer
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