Die Maya-Midgard-Mission
Wassermassen sie unweigerlich alle miteinander in die Tiefe gerissen hätten. Jetzt schienen die Wellen sich beruhigt zu haben. Aber das verflixte Floß nahm Wasser wie ein leckes Heringsfass. Ein paar Stunden, und die schwimmende Rettungsinsel würde zum U-Boot geworden sein und damit zum Plastiksarg.
Salzwasser und Erbrochenes vermischten sich zu einer gallenbitteren Brühe. Bis zum Bauchnabel saß Virginia darin und fühlte sich wie ein ausgekochtes Stück Suppenfleisch. Das Übelkeit erregende Schwa ppen, die düsteren Gedanken, diese Ausdünstungen der Angst im Innern der Überlebenskapsel verbesserten ihren Zustand nicht. Mit klammen, beinahe gefühllosen Fingern versuchte sie, den Reißverschluss wieder aufzunesteln, um frische Luft in ihre Lungen zu bekommen. Sie riss sich einen Finger auf und leckte das Blut ab. Es schmeckte metallisch – nach Eisen – und stillte für einen Moment den Durst. Dann spürte sie durch den dünnen Boden hindurch, wie sich die Kapsel über einen weichen, zunächst konturlosen Gegenstand schob, der bald begann, rhythmisch gegen ihr Knie zu stoßen und Formen zu bilden. Mit den Händen tastete sie nach diesen Formen und zog sie hastig zurück, als eine böse Ahnung unvermittelt und ätzend wie eine Gärungsblase in ihr aufstieg. Das quälende Durstgefühl war vergessen. Mit pochendem Herzen rutschte sie ein Stück zur Seite. Die Welle mit Calderas Erbrochenem folgte ihr und das unheimliche Unterwasserding auch. Treibholz? Ein Baumstumpf? Das Maul eines Hais? Oder war es viel schlimmer – wie ihre Ahnung? Sie trat danach, und es trat zurück. "Hör auf!", schrie sie. Und: "Geh weg!" Aber es ging nicht weg. Und es hörte nicht auf, sie zu verfolgen. Mit wilder Abscheu und von Ekelwellen gepeinigt rutschte sie über den schleimigen, schlingernden Boden des Floßes. Erst hektisch, dann zusehends von Panik erfüllt. Das Ding verfolgte jede ihrer Bewegungen und formte mal kleine mal größere Buckel in den Boden. Dabei durfte Virginia nicht vergessen, ein Auge auf Caldera zu werfen, damit dessen Kopf nicht im Salzwassergallegemisch versank. Das fehlte noch, dass sie beide im Inneren dieser verfluchten Plastikkapsel in ihren eigenen Körperflüssigkeiten ertrinken würden, nachdem sie ein Unwetter in der Troposphäre, einen Flugzeugabsturz irgendwo über dem Atlantik und eine Vernissage in London beinahe unbeschadet überlebt hatten.
Virginia Gluth spürte, dass ihr galliger Mutterwitz sie vor der drohe nden Hysterie bewahrte. Sie musste das verdammte Ding aufkriegen und wissen, was an der Insel und an ihren Nerven zerrte. Sie krallte ihre Fingernägel in die Außenhaut der Insel und zerrte und riss am Gewebe. Aber wenn die Kraft der See nicht reichte, das Tuch zu zerreißen, dann würde sie es mit ihren Schreibtischhänden bestimmt niemals schaffen. "Halt die Klappe und versuch's!", fuhr sie sich selbst an. Sie missachtete das buckelnde Ding an ihren Beinen und kroch zum nächsten Reißverschluss. Mit blutigen Fingern bekam sie ihn auf und stieß die Kunstfaserabdeckung beiseite. Zuerst begriff sie gar nicht, was sie sah. Doch schon im nächsten Augenblick wünschte sie sich, sie hätte ihre unheimliche Rettungskapsel niemals geöffnet. Nie wieder würde sie ein Bad im Meer nehmen können, nie wieder ihre Haut mit dem Wasser dieses Ozeans benetzen. Virginia schluckte und würgte und schalt sich dann selber, nicht so empfindlich zu sein. Empfindlichkeit würde sie nicht aus dieser beschissenen Lage befreien. Und auf den Wogen des Atlantiks waren gewiss mehr als diese Leichen um sie herum geritten. Das Unterwasserdings war nur ein Problem von vielen. Virginia biss die Zähne zusammen, bis sie es knirschen spürte und begann zu zählen. Bei Zwanzig hörte sie auf. Zwanzig leblose Körper, die bäuchlings und rücklings in der See dümpelten. Es war eine verdammte unausweichliche Tatsache, dass sie inmitten eines Leichenfeldes durch diesen scheußlichen bonbonblauen Ozean trieb; halb ertrunken und zur anderen Hälfte verdurstet und in Gesellschaft eines Delirierenden. Und bald würde sicher ein blutrünstiges Rudel Haie auftauchen und ein Wettfressen veranstalten. Irgendein scharfer Haifischzahn würde die dünne Kunststoffhaut des Floßes schon aufschlitzen. Zwei Leichen mehr oder weniger – was solls? Ob das alles Grund genug war zu lachen, wusste Virginia nicht. Aber auf alle Fälle lachte sie schon mal. Sie wieherte vor Lachen. Sie prustete und keuchte und gurgelte vor Lachen...
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