Die Maya-Midgard-Mission
brüllender bärtiger Hünen mit feuerrotem Haar, grässlichen Fratzengesichtern und einem Boot so groß wie der Neunstufen-Tempel von Toxtlipan trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass den Priestern die Prophezeiung über die Bärtigen, die in dickbäuchigen Schiffen aus dem Osten kommen und den Mayas den Untergang bringen würden, leicht wie im Traum zufiel. Alte und Neue Welt waren sich nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal begegnet. Und wie bei jedem Zusammenprallen des Gegensätzlichen, so wurde auch bei diesem neben Gewalt, Tod und Vernichtung mindestens ein Samenkorn des einen ins andere getragen – und umgekehrt.
NebelGeist hoffte, schon bald wieder seinen Namen Kabyum Kin, ' Hand Herr Sonne, der der Sonne zur Hand geht ', voller Stolz und mit Berechtigung tragen zu dürfen.
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2 6 KANNIBALEN
Carlos Caldera hätte nie geglaubt, dass ein Mensch – irgendein Mensch – derart frieren kann. Dass ihm jedoch höchst selbst und am eigenen Leib solches Ungemach widerfuhr, steigerte sein Missbehagen beträchtlich. Er zitterte und bibberte und schlotterte am ganzen Körper, so heftig, dass die Rettungsinsel nur durch die Erschütterungen seines Zitterns ins Schwanken geriet und nicht etwa durch die Regungen eines Ozeans. Die mussten Einbildung sein. Verdammte Einbildung! Halluzinationen! Genau wie der Absturz weitab vom Bermuda-Dreieck, die vorherige Strafexkursion nach England, die Entführung einer rothaarigen Kunstkritikerin, die Hand des ertrinkenden Piloten, die sich im Todeskampf in sein Bein gekrallt hatte, und diese vollkommen albernen Alpträume von drachenähnlichen Vögeln und albumartigen Büchern.
" Oh, mein Gott, es ist wahr!", stammelte Caldera und die Erinnerung traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Wieder und wieder erbrach er mit Salzwasser vermischte Galle. 'Ich will leben!', wollte er schreien. Aber, was über seine Lippen kam, war nur eine weitere Portion saurer Schleim. Er war zu schwach, um zu schreien. Zu schwach, um dagegen aufzubegehren, dass einem Menschen wie ihm ein solch elendes Ende zuteil werden sollte; ein Carlos Ybarra Caldera III. verreckt doch nicht so erbärmlich in einem Rettungsfloß. Oder doch? Er fühlte sich so elend, dass ihm selbst die Kraft fehlte, zu beklagen, dass sein Schicksal ihn in eine Situation gebracht hatte, aus der er sich weder mit seinem Geld noch mit seiner Macht noch mit der schöpferischen Kraft seines Geistes befreien konnte. Vor wenigen Stunden noch hätte er bestritten, dass es eine solche Konstellation zu Ungunsten eines Carlos Caldera überhaupt geben könne. Jetzt waren seine Lebensgeister zu saftlos, auch nur die Stimmbänder zu spannen, um sich dieser niederträchtigen Launenhaftigkeit des Schicksals entgegen zu stemmen.
" Carlos", sagte eine ferne Stimme. Und bevor ihm die Sinne schwanden, erhaschte er noch einen Blick auf eine wilde Mähne brennender Haare um ein gütiges Bleichgesicht mit grünen Augen mit braunen Brauen so britisch so gut so... Sirene, Nixe oder Meerjungfrau? Feuerfrau... bekannt.
" Caldera!", wiederholte Virginia und rüttelte ihren ohnmächtigen Entführer. "Und ich hab geglaubt, du bist belastbar." Dann schwieg sie, obwohl sie ihre Angst, dass Caldera innere Verletzungen davongetragen hatte, liebend gerne mit einem anderen menschlichen Wesen, einem Gekenterten, Verunglückten, wem auch immer, geteilt hätte. Da war niemand. Nur sie selbst, der Ohnmächtige und die See. Und die würde sie beide verschlingen. Früher oder später. Soviel stand fest.
Virginia Gluth hatte den Absturz unversehrt überlebt. Nicht eine Schramme hatte sie abbekommen. Nur ihre Moral war reichlich ang eknackst. Sie litt unter der Einsamkeit. Sie fühlte sich allein. Im Stich gelassen. Aufgegeben. Sie brauchte ein anderes menschliches Wesen; den wärmenden Klang einer Stimme; den Trost einer helfenden Hand. Doch da war niemand. Dennoch hatte die Vorsehung es gut mit ihr gemeint: Sie lebte, sie konnte sich wehren, sie konnte kämpfen. Alle anderen waren in der kochenden See kurz nach dem Absturz der Gulfstream verschwunden. Nur Carlos hatte sie rausfischen können. Virginia nahm an, dass Lopes und Javier ertrunken waren. Sie selbst hatte sich irgendwie in die Rettungsinsel gehangelt und Carlos mit hineingehievt. Für Javier und Lopes hatten ihre Kräfte nicht mehr gereicht. Sie war schon froh, dass sie den Reißverschluss vom Floß geschlossen bekam, bevor die kreuz- und querschießenden
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