Die Maya-Midgard-Mission
Nein, das Gurgeln kam nicht von ihr. Sie steckte ihren Kopf zurück ins Floß und sah wie Blasen und Bläschen in einem lustigen Reigen aus Calderas Mund und Nase aufstiegen. So lustig hätte sie sich das nicht im Traum vorgestellt: das Sterben. Sie lachte bis die Tränen über ihre Wangen liefen und ins Floß tropften. Das Meer der Tränen. Ein Witz.
Aber auch Caldera schien sich köstlich zu amüsieren; er schlenkerte ganz komisch mit Armen und Beinen. Virginia griff nach seiner schwarzen Seidenkrawatte, die wie der Schwanz einer toten Bisamratte an seinem Hals baumelte und zog sein zum Totlachen rotes Gesicht zu sich heran. "Findest du das komisch, Scheißkerl?", schrie sie ihn an.
Aber anstatt zu antworten, hustete der Flegel ihr seinen Rotz ins G esicht und riss an ihren Haaren. Jetzt war es genug. Sie schlug ihm ihre freie Linke aufs Ohr, und er blinzelte wild und machte Augen so groß und so schwarz wie Eierbriketts. Doch ihre Haare ließ er nicht los. Er zerrte und klammerte und zog und riss, als seien Virginias Haare sein ganzer Halt in diesem Leben. Sie konnte nicht wissen, dass sie es auf eine nie geglaubte Weise auch waren.
Ohne dieses füllige Gewirr roter Haare und den würzigen Duft bl ühender Sommerwiesen hätte Caldera wahrhaftig jeden Halt an der wirklichen Welt verloren und wäre schon längst als sich auflösende Molekularstruktur ins Reich Neptuns gesunken. Dass er diese Gedanken dachte, während er gleichzeitig um Luft und um sein Überleben rang, erheiterte ihn nicht wenig. Er schrieb es bestimmten Endomorphinen und Hormonen zu und behauptete fortan bis an sein Lebensende, dass nichts im Leben lebendiger macht als der (Vor-) Geschmack des eigenen Todes. Hätte er die Macht über seine Stimme schon wieder erlangt, so würde er diese Hochstimmung gerne mit der Feuerfrau geteilt haben. Aber sie war immer noch damit beschäftigt, ihm auf den Kopf zu schlagen und trug so vielleicht nicht einmal unerheblich zu seiner Ekstase bei. Ob sie ihn für verrückt erklärt hätte? So musste er sich fürs erste damit begnügen, einen inneren Monolog über das Wesen geistiger Gesundheit zu führen. Seine Lebensgeister waren dank der Reißfestigkeit roter Haare nachhaltig geweckt. Da drängte sich ein solches Thema geradezu auf. Gesundheit ist eine Erkrankung des Stoffwechsels. Wer hatte das gesagt?
Virginia hatte Calderas Augenrollen, sein Mienenspiel und das beinahe groteske Drama seiner Rückkehr ins Leben in einer halbaktiven A bwehrhaltung verfolgt. Sie fand das alles gar nicht mehr so lustig: Nicht den Ausblick auf die Leichen; nicht den Anblick des um sein Leben ringenden Calderas; nicht die Haarbüschel, die er ihr ausgerissen hatte; und auch nicht die Tatsache, dass irgendwas an ihrem Fuß knabberte. Sie hörte auf, Calderas Kopf zu schlagen und widmete ihr Augenmerk der Außenwelt.
Virginia Gluth ahnte nicht, dass die Insel, deren Silhouette schon la nge unter der nördlichen Kimm verschwunden war, Barbados geheißen hatte. Sie ahnte nicht, dass die Leichen im Wasser, zu einer Gruppe englischer Touristen gehörten, die ein Pferderennen im berühmten Garrison Savannah besucht hatten, als der Sturm sie überrascht und zusammen mit der gesamten Tribüne aus dem Renngeschehen und ihrem Leben gerissen und viele Seemeilen weiter südöstlich in die Wellen gespuckt hatte. Einer Laune der Naturgewalten oder einem noch willkürlicheren Witzbold war es zu verdanken, dass diese Unglücklichen auch im Tode eine Gruppe bildeten. Die meisten trugen ihre Ferngläser noch um den Hals, als hielten sie Ausschau nach dem ewigen Zieleinlauf. Doch was sie erblickt hätten, wären nur die Trümmer einer einst blühenden Insel gewesen. Virginia ahnte nicht, dass diese zwanzig zerschmetterten Körper der gnädige Teilanblick einer ungleich größeren und unermesslich viel schrecklicheren Zerstörung waren. Sie ahnte nicht, dass der Regen und nicht der Sturm die schlimmste Vernichtung gebracht hatte. Und sie ahnte nicht, dass das Meeresgetier, das an ihrem dicken Zeh zwackte, von nahen Ufern kündete. Sie wusste nur, dass sich bald eine grundlegende Änderung in ihrem Leben ergeben musste, da sie dicht davor stand durchzudrehen.
" Wasser!", stöhnte Caldera, der irgendwo im Labyrinth seiner Gedanken die Stimme wiedergefunden hatte.
Der menschliche Laut wirkte auf Virginia wie ein Katalysator. Sie b egann mit gewölbten Händen die übelriechende Brühe aus der Rettungsinsel hinauszuschöpfen. "Mach mit, Carlos", sagte
Weitere Kostenlose Bücher