Die Maya-Midgard-Mission
wieder, hilflos zu entrinnen, kurz bevor die Röhre erneut auf den Kopf gestellt wird. Ein Gefühl unausweichlicher Ohnmacht. Dagegen muss ich ankämpfen, unbedingt, ich muss einfach da raus..."
" Ja, die Jugend", seufzte Norma Mortenson, "und ihr Drang zum Handeln. Eine Frage bleibt, Kindchen, dann will ich dir helfen. Warum nicht einfach im Strom der Zeit treiben, sich von den Fluten wegtragen lassen, warum gegen sie anschwimmen, warum um Verständnis und Erkenntnis ringen, warum um Überleben kämpfen, warum nach Glück, Zufriedenheit, Erfüllung suchen, warum Gesundheit, Bequemlichkeit, Sicherheit anstreben, warum nicht einfach all dieses unnütze Klammern loslassen, sich treiben lassen? Würde das unser Ziel ändern, unsere Bestimmung weniger wert sein lassen, unserer Sinnerfüllung widersprechen, oder würde es uns einfach nur das Leben erleichtern? Carl konnte nicht loslassen. Er hat sich solange an diesen hehren Mythos geklammert, bis... bis ich ihn beerdigen musste. Edelmütig bis zum Ende." Winzige, kaum sichtbare Tränen sickerten jetzt aus den Augenwinkeln der Alten.
" Wir haben heute beide ganz nah am Wasser gebaut, was?", sagte Daria, leckte sich eine letzte, salzige Träne vom Mundwinkel und ergriff nun ihrerseits Norma Mortensons Hände. Die Haut der alten Dame fühlte sich kühl und pergamenten an. Der Duft nach wilden Lupinen stieg Daria in die Nase. Verwirrt schaute sie nach draußen in den Garten. Aber der Wind war für den Augenblick abgeflaut, die vergilbten Vorhänge hingen schlaff an den Seiten der Fenster. Außerdem waren alle Pflanzen, erst recht die blühenden, vom Sturm vernichtet worden.
" Das ist gut so", schniefte Ms. Mortenson, "weil wir doch auf dem Trockenen sitzen und das Wasser brauchen, wie die Wüste den Sand."
" War das deine Frage, Norma Jean?", fragte Daria behutsam.
" Eine kleine Frage", sagte Ms. Mortenson, "vom Strom der Zeit. Ja, das wars schon."
" Nun, dann will ich dir eine einfache, kleine Antwort geben: Du bist hier, um deine Fragen zu stellen, und um sie mit der Essenz deines Lebens, deines Seins, zu beantworten. Antworten, die nur du geben kannst, auf Fragen, die nur du stellen wirst."
" Aber warum?"
" Weil Fragen und Antworten die Struktur unserer Welt bilden."
" Aber wäre es nicht besser oder mindestens leichter, es gäbe sie nicht, die Frage- und die Ausrufezeichen, die ganze quälende Neugier des Menschentiers?"
" Wenn Du das denkst, dann gibt es sie nicht. Dann bist du genauso unwirklich wie ich und alles andere. Aber ändern würde auch das nichts. Ich denke, also bin ich. Oder denke ich nur, ich bin? Nein, ich glaube, dass ich denke, dass ich weiß. Ich bin! Also, will ich wissen. Immer mehr. Fragen zu stellen und versuchen sie zu beantworten, ist meine natürliche Bestimmung. Ich sammle Zeit. Ich bin eine Zeitsammlerin. Ist dann nicht so langweilig, verstehst du?"
" Nein!"
" Na bitte!", sagte Daria und lächelte.
Ein höchst amüsierter Blick aus den verwaschenen, blauen Augen streifte sie. "Du erinnerst mich an meinen Schriftstellerfreund, Kindchen. Er hat sich auch immer so sibyllinisch ausgedrückt. Nun gut, Carl war ein alter Mann, als ich ihn auf Santa Aurora kennen lernte. Er muss weit über 70 gewesen sein, damals. Aber seiner Ausstrahlung hat das keinen Abbruch getan. Erinnerst du dich an Gregory Peck in Weites Land, Kindchen? So beherrscht, so korrekt, so zuvorkommend konnte er sein. Der Knabe hatte Verve."
Norma verlieh ihrer Begeisterung Ausdruck, indem sie mit den Fi ngern schnippte. Das laute Schnalzgeräusch ließ Daria zusammenzucken. Sie überlegte, wie sie Normas Schwärmerei nach ihrem Ausbruch wieder auf die gewünschte Spur lenken könnte.
" Diesen Charme, eine solche, ja Leichtigkeit, hätte ich einem Deutschen niemals zugetraut. Noch dazu, weil er doch schon seit einem halben Jahrhundert lebte wie ein Einsiedler. Oh, là, là, Kindchen, aber für Schriftsteller scheine ich nun mal eine Schwäche zu haben..." Norma Mortenson verstummte abrupt, doch ihr verzückter Blick ließ die köstlichen Fernen, in die er entschweifte, ahnen.
Daria räusperte sich vernehmlich. "Mit alten Geschichten kenne ich mich aus, Norma Jean. Vergessen Sie nicht, dass es mein Beruf ist, das vergangene und Verborgene wieder sichtbar und verständlich zu machen. Natürlich habe ich auch Verständnis für die persönlichen Erlebnisse, na ja, für die Pikanterien, die man lieber für sich behält. Was hatte Ihr Carl denn nun mit den
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