Die Maya-Midgard-Mission
der mehr wusste als du und ich. Er hat die Bücher gesucht wie du. Doch gefunden hat er sie nicht. Nur ihre Spuren, und die Wirkung, die sie hinterlassen haben. Nun sag mir, Kindchen, warum du Erfolg haben wirst, wo er versagte!"
»Schließe deine Kinnladen« , raunte Stimmchen Daria zu, »oder wolltest du nicht mit deiner Intelligenz betören?«
Daria entschloss sich zu einem Frontalangriff und erzählte Norma Mortenson alles, was sie über die Bücher der Sechsten Sonne wusste.
Nach ungefähr einer Stunde konzentrierten Lauschens, holte die rü stige Dame einen tönernen Krug mit Wasser und zwei Gläsern und schüttete ihnen beiden eine große Portion ein.
" Ich habe dir zugehört, Kindchen. Du hast mir viel erzählt, das meiste hab ich schon einmal zu hören bekommen. Zeig mir das Manuskript von Federmann – bitte!"
Zum ersten Mal hörte Daria ein halbwegs höfliches Wort aus dem Munde der betagten Inselherrin. Sie nahm die Schriftrolle aus ihrem Rucksack und reichte sie kommentarlos weiter.
Norma Mortenson brauchte nicht einmal eine Lesebrille. Ihre Sinne schienen allesamt hellwach und geschärft. Ihre blauen Augen flogen über die Zeilen, verharrten von Zeit zu Zeit, ihre Mund- und Augenwinkel zuckten wie unter großer Anstrengung, und manchmal murmelte sie ein paar unverständliche Laute, die wie ein Kauderwelsch aus Spanisch und Nahuatl klangen. Dann nickte sie lange, unendlich lange mit dem Kopf.
Daria machte sich schon Gedanken, ob Ms. M. in Trance gefallen war.
"Er war dicht davor, ja, wirklich und wahrhaftig, dicht davor. Beinahe hätte er es geschafft. Ich werde dir helfen, Kindchen. Wenn du mir zwei Fragen beantwortest."
" Ich finde sie!"
" Ich glaube dir, Kindchen. Aber das war keine Antwort auf meine Frage."
Daria Delfonte fand langsam Gefallen an dem Spielchen mit der sku rrilen Amerikanerin. Norma bot nicht nur einen höchst ungewöhnlichen Anblick in ihrem Flickenteppichkleid; mit der riesigen Baskenmütze, die – Daria hätte wetten mögen – einen blanken Schädel bedeckte; den viel zu großen und viel zu schweren Ohranhängern aus massivem Rotgold; den gerougten Wangen und Händen; den türkisen Espadrillen – die Stiefel hatte sie beim Wasserholen in der Küche gelassen – und dem weißen Seidenschal um den Hals, der bestimmt dazu diente, die tiefen, senkrechten Falten, die gleich unter den verwaschenen Augen ihren Ursprung hatten, zu kaschieren. Nein, sie beherrschte auch die hohe Kunst, mit dem Unausgesprochenen zu jonglieren. Daria hatte noch nicht begriffen, was genau der Preis für die Erlaubnis, die Bücher suchen zu dürfen, sein sollte. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Alte auf eine subtile Weise kokettierte. Sie beabsichtigte, auf ein ganz bestimmtes Ziel zuzusteuern. Und sie wollte, dass Daria dabei mitspielte.
" Okay, Norma Jean", meinte Daria ungerührt. "Wenn Sie mir versprechen, mich nicht länger 'Kindchen' zu nennen, dann verspreche ich, keiner Menschenseele Ihren zweiten Vornamen oder das Geheimnis Ihrer Herkunft zu verraten."
" Soll das heißen, du weißt etwas über mich, Kindchen? Ein echtes Geheimnis? Oh, wie spannend. Ich liebe Geheimnisse. Und ich bin immer der Meinung, dass sie welche bleiben sollten."
" Nun gut, wie lauten die Fragen?"
" Warum? Warum willst du sie finden? Oder musst du sie etwa finden? Und wenn du sie hast, was wirst du mit ihnen anfangen?"
" Das waren vier Fragen, Lady. Aber, okay, ich merke schon, was für ein zäher Gegner Sie sind. Ich komme also zuerst aus der Deckung. Nun: Wenn ich die Bücher finde, werde ich sie lesen und versuchen zu verstehen, um sie aller Welt begreiflich zu machen. Ich bin sicher, dass die Maya uns in vielerlei Hinsicht weit überlegen waren: Mathematisch, astronomisch, architektonisch. Aber auch moralisch und kulturell. Waren sie uns vielleicht auch in Fragen sozialer Kompetenz voraus? Wir modernen Menschen müssen von dem hohen Ross unserer EinBildung herabsteigen, ehe wir uns mit Hilfe der Sechsten Sonne zu neuen Höhenflügen emporschwingen können. Das will ich möglichst vielen meiner Zeitgenossen nahe legen. Für den Fall allerdings..." Daria zögerte einen langen Augenblick und musterte ihr Gegenüber nachdenklich. "Nun, für den Fall, dass wir hier gerade wirklich so etwas wie Armageddon erleben, habe ich eine ganz andere These..."
" Und die wäre, Liebes?"
" Vielleicht wussten die Maya, was uns erwartet. Also, nicht nur die Aureolen, sondern die gesamte Menschheit.
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