Die Maya-Midgard-Mission
rennen.
Rannte hinter Sean Gandi und seiner schweren Last her.
Rannte um ihr Leben.
***
40 AURORA WIDER DIE WINDE
Sie hatten es geschafft. Dank Yaphet Kialu und Domnall O' Domhnaill. Die Männer hatten der heranbrausenden Gefahr getrotzt und Daria und den entkräfteten Sean Gandi am Strand erwartet. Weder der peitschende Regen, noch die Zweige und Äste, die der Sturm ihnen ins Gesicht klatschte, noch der aufgewirbelte Sand, der ihnen die Sonnenbräune vom Körper schmirgelte, wo immer sich ihm noch ein Fetzchen blanker Haut bot, konnte die vermummten Gestalten aufhalten. Die übrigen Aureolen waren schon vor Stunden zu Auroras höchstem Gipfel, dem Mount Cornucopia, aufgebrochen. Sie hatten sich wie Packesel mit den nützlichen Resten der Zivilisation nach der ersten Katastrophe beladen und ächzten unter Führung des ortskundigen Hippolyte um die westliche Flanke des Cornuc, um sich im Schutz des schneebedeckten Berges auf seiner Südseite oder irgendwo im Höhenwald vor den vom Norden heranrasenden Wasserwänden in Sicherheit zu bringen.
Dom und Yaphet schulterten Ms. M. abwechselnd. Darias linker H aken hatte durchschlagende Wirkung erzielt. Die alte Dame war immer noch außer Gefecht. Zusammen folgten sie der Vorhut um Hippolyte und waren auf ungefähr sechshundert Höhenmeter geklettert, als die erste Wasserwalze Aurora von Norden heranbrausend traf. Im Augenblick des Aufpralls verstummte das Gebrüll des tosenden Wassers jäh. Der Gipfel des Cornuc lag friedlich im Nebel verborgen. Die Flüchtenden verharrten für einen Moment mit pfeifenden Lungen und keuchendem Atem, hielten die Luft an und lauschten. Als hätte die Angst und die Anstrengung sie taub werden lassen, kam das einzige Geräusch in der unheimlichen Stille von ihren pochenden Herzen. Dann prallten die Wellen auf den Sockel des Archipels, die Erde stöhnte und ächzte, erbebte in ihren Grundfesten, wankte, aber widerstand. Aurora lebte weiter, aber die Aureolen wurden von einer Druckwelle getroffen und umgehauen.
Nach ein paar Minuten der Lähmung, rappelte Daria sich auf. Kein Wasser, nur das latente Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung. Was mochte das sein? Wie alle anderen Überlebenden auch, wusste sie, dass es auf Aurora weder Schlangen noch andere gefährliche Tiere gab. Das unterschwellige Gefühl der Bedrohung blieb – wie eine Gänsehaut, die einem über den Rücken kriecht, wenn man in die Badewanne mit heißem Wasser steigt. Zuerst hatte Daria dieses Erschauern den Umständen zugeschrieben. Man überlebt nicht alle Tage den Weltuntergang. Doch jetzt, nach so vielen Tagen, war der erste Schock verflogen, die vom Sturm gepeitschten Sinne begannen sich wieder zu schärfen, das Auge stellte sich auf Feinheiten ein, die Farben und Töne kehrten wieder – genau wie die Seevögel. Daria empfand die wiedererwachende Sinnenfreude als Bereicherung. Aber auf eine schwer zu fassende Weise wurde das Leben dadurch nicht unbedingt erleichtert. Mit ihren wiedererstarkten Sinnen versuchte sie, das Gefühl dieser unter-schwelligen Bedrohung zu sezieren oder zumindest in greifbare Gedanken und Worte zu kleiden.
»Gibs auf!« lästerte Stimmchen.
Doch Daria blieb hartnäckig. Und sie hatte eine Spur aufgenommen, während sie hint er den anderen her einen holprigen Pfad des zentralen Bergrückens der Insel erklomm. Hippolyte hatte ihnen erklärt, dass in den höheren Regionen der Insel ein Busch mit kirschgroßen, saftigen Früchten, die sehr nahrhaft und ziemlich bekömmlich waren, wuchs. Sie hofften nun auf der windabgewiesenen Flanke des Berges noch ein paar dieser Büsche zu finden, die der Sturm ungeschoren gelassen hatte. Bücher und Büsche finden. Überleben sichern.
Aber die Angst um dieses psychische und physische Überleben, um die fehlende Nahrung und die fehlende Perspektive, waren es nicht alleine, die Darias düstere Ahnungen nährte und ungute Schwingungen in ihr hervorrief. Nein, mit jedem Schritt wurde ihr bewußter, dass es eine Trauer war – vielleicht eine Art von Tod –, die sie, wie alle anderen Überlebenden auch, mit sich und in sich trug. Es handelte sich um eine Trauer um die altbekannte Welt, die versunken war oder aber ihnen auf unabsehbare Zeit verschlossen sein würde. Es war eine Trauer um die Angehörigen daheim, die einem unwägbaren Schicksal gegenüberstanden. Niemand wusste schließlich, ob und wann man sich je wiedersehen würde.
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