Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
ziehen. Passanten applaudieren, als wären wir die Vorhut der Tour de France.
In Valence irren wir eine Nacht lang durch die Stadt, bis uns eine alte Frau, die uns für ihre Enkel hält, ein phänomenales Hähnchen mit Fritten vorsetzt. Außerdem lässt sie uns ein Schaumbad ein, dem wir wie verwandelt entsteigen, und serviert uns süßsaure Limonade. Luxus pur!
Sauber und gestärkt machen wir uns wieder auf den Weg. Schon bald erreichen wir Orange, das Tor zum Süden, wo die Eisenbahnpolizei uns aus dem Viehwaggon verscheucht, in dem wir übernachtet haben. In Perpignan riecht es bereits nach Spanien … Mit jedem zurückgelegten Kilometer wird mein Traum greifbarer. Alles scheint möglich. Miss Acacia, ich komme!
An der Seite von Kapitän Méliès fühle ich mich unbesiegbar. Auf unseren Rollbrettern surfen wir über die spanische Grenze, ein warmer Wind weht mir durch die Knochen, und die Zeiger meiner Uhr werden zu Windmühlenflügeln. Sie treiben mich an, und die Körner meines Traums werden zu Mehl für ein frisch gebackenes Leben gemahlen. Miss Acacia, ich komme!
Ein Heer Olivenbäume steht uns Spalier, gefolgt von einem Orangenhain, der seine prallen Früchte in den Himmel reckt. Unermüdlich rollen wir weiter. Die roten Berge Andalusiens zeichnen sich wie ein Scherenschnitt am Horizont ab.
In einigen hundert Metern Entfernung reibt sich eine blutleere Kumuluswolke an den Berggipfeln und spuckt nervös Blitze. Méliès bedeutet mir, meine Metallteile abzudecken. Noch ist nicht der richtige Zeitpunkt, vom Blitz getroffen zu werden.
Während wir durch einen beklemmenden Bergkessel rollen, zieht über unseren Köpfen ein Vogel seine Kreise, unheilverkündend wie ein Aasgeier. Es ist Lunas zerrupfte Brieftaube! Hoffentlich bringt sie eine Nachricht von Madeleine. Ich bin erleichtert, dass sie endlich zurück ist, denn auch wenn meine Träume in mir brodeln, vergesse ich Madeleine keine Sekunde.
Bei ihrer Landung wirbelt die Taube ein winziges Staubwölkchen auf. Mein Herz rast, ich kann es kaum erwarten, den Brief zu lesen, aber der vermaledeite Vogel will sich nicht einfangen lassen! Mein schnurrbärtiger Freund führt gurrend und glucksend einen Indianertanz auf, um die Taube anzulocken, und endlich gelingt es mir, sie zu packen.
Alles umsonst: Die Taube reist ohne Gepäck. An ihrem linken Bein baumelt eine lose Schnur. Kein Brief von Madeleine. Wahrscheinlich war er zu lang und zu schwer. Der Wind muss ihn abgerissen haben, vielleicht in der Nähe von Valence, im Rhônetal, wo er sich ein letztes Mal aufbäumt, bevor er in der Sonne des Südens stirbt.
Ich bin maßlos enttäuscht, so als hätte ich ein Geschenk geöffnet und darin nichts als Gespenster vorgefunden. Ich setze mich auf mein Rollbrett und kritzle schnell ein paar Zeilen auf einen Zettel.
Liebe Madeleine,
würdest du mir in der nächsten Nachricht bitte deinen letzten Brief zusammenfassen, die dusselige Taube hat den Zettel verloren.
Ich habe einen Uhrmacher gefunden, der sich um mein Herz kümmert. Mir geht es gut.
Ich vermisse dich. Anna, Luna und Arthur auch.
Dein Jack
Méliès hilft mir, den Zettel um das Bein der Taube zu rollen.
»Wenn sie wüsste, dass ich auf dem Weg nach Andalusien bin, um der Liebe hinterherzujagen, wäre sie furchtbar wütend!«
»Mütter machen sich immer Sorgen um ihre Kinder. Sie wollen sie beschützen, aber du bist alt genug, um das Nest zu verlassen und flügge zu werden! Wirf einen Blick auf dein Herz! Es ist zwölf Uhr mittags! Zeit, sich ins Abenteuer zu stürzen! Sieh nur, was auf dem Schild dort steht: Granada! ¡Anda! ¡Anda! «, gurrt Méliès. Seine Augen sind zwei leuchtende Kometen.
Wenn am Ende einer Schatzsuche endlich die Goldmünzen durchs Schlüsselloch der Truhe schimmern, wagt man kaum, den Deckel zu heben. Aus Angst vorm Gewinnen.
Ich brüte dieses Traum-Ei schon so lange aus! Joe hat es mir zwar auf dem Kopf zertrümmert, aber ich habe die Schalenstücke wieder eingesammelt. Geduldig setzte ich in Gedanken das Ei wieder zusammen, und seitdem hüte ich darin die unzähligen Bilder von der kleinen Sängerin. Nun ist mein Traum kurz vor dem Schlüpfen, und ich bin vor Angst wie gelähmt.
Vor dem türkis schillernden Himmel streckt uns die Alhambra freudig ihre Arabesken entgegen. Kutschen rattern, mein Herz rattert. Wind fegt durch die Straßen, wirbelt Staub auf, hebt die Röcke der Frauen wie Sonnenschirme. Werde ich es wagen, dich aufzuspannen, Miss Acacia?
In der Altstadt
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