Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
beginnen wir sofort damit, die Theater abzuklappern. Das Sonnenlicht ist gleißend hell. Überall stellt Méliès dieselbe Frage: »Sie kennen nicht zufällig eine kleine Flamencotänzerin, die gut singt, aber sehr schlecht sieht?«
Es wäre einfacher, eine einzelne Flocke in einem Schneesturm aufzuspüren. Irgendwann besänftigt die Abenddämmerung das flammende Rotorange der Stadt, aber noch immer sind wir auf keine Spur von Miss Acacia gestoßen.
»Sängerinnen gibt es hier wie Sand am Meer«, brummt ein alter Mann, der vor dem tausendsten Theater die Straße fegt.
»Nein, nein, unsere Sängerin ist unverwechselbar. Sie ist noch ganz jung, gerade mal vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, aber sie singt wie eine Erwachsene, und sie stößt ständig überall gegen.«
»Wenn sie wirklich so außergewöhnlich ist, versucht es doch mal im Extraordinarium.«
»Was ist das?«
»Ein Zirkus, der nicht weiterziehen wollte und zum Jahrmarkt wurde. Dort gibt es alle möglichen Kuriositäten: Gaukler und Musikanten, Primaballerinen und wilde Elefanten, Clowns und Freaks, eine Geisterbahn und eine Spieluhr mit mechanischen Vögeln. Ich glaube, sie haben auch eine kleine Sängerin. Es ist in der Calle Pablo Jardim Nummer zwei, im Cartuja-Viertel, nicht weit von hier.«
»Vielen Dank!«
»Es ist ein merkwürdiger Ort, nichts für jeden Geschmack … Viel Glück!«
Auf dem Weg zum Extraordinarium erteilt mir Méliès noch ein paar letzte Ratschläge.
»Du musst bluffen wie ein Pokerspieler. Zeige niemals, dass du Angst hast oder zweifelst. Und du darfst eins nie vergessen: Dein Herz ist dein Trumpf. Du glaubst, es sei deine Schwäche, aber deine Uhr macht dich einzigartig. Sie unterscheidet dich von allen anderen, und gerade das macht dich attraktiv!«
»Mein Anderssein soll anziehend sein? Ist das dein Ernst?«
»Aber sicher! Hat dich deine kleine Sängerin etwa nicht damit verzaubert, dass sie ohne ihre Brille ständig überall gegenstößt?«
»Nein, das war es eigentlich nicht.«
»Natürlich nicht, jedenfalls nicht nur, aber es macht sie nicht weniger attraktiv – im Gegenteil! Nutze dein Anderssein, es wird höchste Zeit!«
Es ist zehn Uhr abends, als wir das Extraordinarium erreichen. Wir schlendern durch die Gassen, von allen Seiten erschallt Musik, Melodien übertönen sich in einer fröhlichen Kakophonie. Aus den Buden schlägt uns der Geruch nach altem Bratöl und Staub entgegen – hier hat man sicher ständig eine trockene Kehle!
Die schiefen Bretterbuden sehen aus, als würden sie beim kleinsten Windstoß umfallen. Auch die Spieluhr mit den Vögeln. Sie erinnert mich an mein Herz, nur in groß. Zu jeder vollen Stunde schnellen die Vögel aus ihren Türchen und trällern ein Lied. Eine Uhr ohne Innereien aus Fleisch und Blut muss so viel einfacher zu warten sein.
Nachdem wir eine Weile ziellos durch die Gassen geschlendert sind, fällt mein Blick auf ein Plakat mit dem Abendprogramm:
Miss Acacia, Flamenco mit scharfer Salsa, 22 Uhr, auf der kleinen Bühne gegenüber der Geisterbahn.
Ich erkenne ihr Gesicht auf dem Foto sofort wieder. Seit vier Jahren durchstöbere ich meine Träume nach ihrem Bild, endlich übernimmt die Wirklichkeit das Ruder! Ich fühle mich wie ein Vogeljunges vor seinem ersten Flug. Auch wenn mir schwindelig ist, muss ich das Nest verlassen und den Sprung ins Ungewisse wagen.
Auf das Kleid der kleinen Sängerin sind Papierrosen aufgenäht, eine Schatzkarte ihres Körpers. Ich schmecke Elektrizität auf der Zungenspitze. Ich bin eine Bombe, die jeden Moment zu explodieren droht, eine vor Angst zitternde Bombe, aber trotzdem eine Bombe.
Wir gehen zur Bühne hinüber, die unter dem Vordach eines Zirkuswagens aufgebaut ist, und setzen uns zwischen die Zuschauer. Ich kann es kaum fassen: Gleich werde ich die kleine Sängerin wiedersehen … Wie viele Millionen Sekunden sind seit meinem zehnten Geburtstag verstrichen? Wie viele Millionen Male habe ich diesen Augenblick herbeigeträumt? Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmt mich, ich kann kaum still sitzen. In meiner Brust hat sich die stolze Windmühle wieder in ein kleines Holzkästchen verwandelt, in dem sich ein zaghafter Kuckuck versteckt.
Die Leute in der ersten Reihe drehen sich genervt zu mir um, weil meine Zahnräder immer lauter rattern. Méliès schenkt ihnen ein katzenhaftes Lächeln. Drei Mädchen stecken die Köpfe zusammen und tuscheln auf Spanisch, vermutlich denken sie, dass wir aus einer der Freakshows abgehauen
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