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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Malzieu
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versinken. Frische Luft! Das ist es, was wir beide brauchen. Reichlich frische Luft! Das heißt, falls du mich immer noch als Reisegefährten willst …«
    »Natürlich! Wann fahren wir los?«
    »Gleich nach dem Frühstück!«, sagt er und zeigt auf seine gepackte Tasche.
    Wir setzen uns an einen wackeligen Tisch, trinken viel zu heißen Kakao und essen weiche Marmeladenbrote. Das Frühstück ist nicht so gut wie bei Madeleine, aber es macht Spaß, zwischen Außerirdischen zu sitzen, die Méliès aus Papier ausgeschnitten hat.
    »Ach, weißt du, als ich verliebt war, habe ich andauernd irgendwelche Sachen erfunden. Krimskrams, Firlefanz, Schnickschnack, nur, um meine Angebetete zu betören. Ich glaube, irgendwann hatte sie ganz einfach die Nase voll von meinen Verrücktheiten«, erklärt er mit herabhängenden Schnurrbartenden. »Ich wollte ihr eine Reise zum Mond basteln, aber ich hätte ihr wohl besser eine echte Reise auf der Erde geschenkt. Ich hätte sie heiraten und uns ein Haus bauen sollen, in dem es sich besser wohnen lässt als in meiner vollgestopften Werkstatt. Irgendwas …«, sagt er seufzend. »Eines Tages habe ich zwei Bretter aus ihrem Regal genommen und die Rollen zweier Krankenhauswägelchen druntergeschraubt, um damit zusammen mit ihr im Mondschein spazieren zu fahren. Aber sie weigerte sich, auch nur einen Fuß auf ihr Rollbrett zu stellen. Stattdessen musste ich ihr neue Regale besorgen. Liebe ist nicht immer einfach, mein Junge«, murmelt er nachdenklich. »Aber du und ich, wir werden gemeinsam diese Bretter besteigen! Und damit quer durch Europa rollen!«
    »Können wir nicht auch hin und wieder den Zug nehmen? Die Zeit drängt …«
    »Die Zeit bedrängt dich?«
    »Das auch.«
    Offenbar zieht meine Uhr gebrochene Herzen magisch an. Madeleine, Arthur, Anna, Luna, selbst Joe – und jetzt Méliès. Ich glaube, dass ihre Herzen noch viel dringender einen guten Uhrmacher bräuchten als meins.

    * Jean-Eugène Robert-Houdin (1805–1871) war Uhrmacher, Illusionist und Erfinder. Er entwickelte unter anderem einen Kilometerzähler und optische Geräte für die Augenheilkunde. Robert-Houdin eröffnete in Paris ein Theater, in dem er Automaten vorführte, zum Beispiel eine Spieluhr mit einem mechanischen Vogel und andere Wunderwerke der Technik. Er war das große Vorbild von Georges Méliès (einem der ersten Filmregisseure und Erfinder von Spezialeffekten). Später sollte der berühmte Magier Houdini sein Pseudonym als Hommage an Robert-Houdin wählen.

6
    en Süden! Wir fahren quer durch Frankreich, rollende Pilger, die einem unerreichbaren Traum hinterherjagen. Wir sind ein sonderbares Paar: ein langer Schlacks mit einem Katzenschnurrbart und ein kleiner Kerl mit einem Herz aus Holz. Zwei zusammengeflickte Don Quichottes, die sich anschicken, die andalusische Westernlandschaft zu erobern. Luna hat mir Südspanien als einen fantastischen Ort beschrieben, als eine Gegend, in der Traum und Albtraum aufeinandertreffen, so wie Cowboys und Indianer im Wilden Westen. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen …
    Unterwegs reden wir viel. Méliès ist sozusagen mein Doctor Love , das Gegenteil von Madeleine, dabei ist er ihr so ähnlich. Ich wiederum ermuntere Méliès dazu, das Herz seiner Angebeteten zurückzuerobern.
    »Vielleicht liebt sie dich insgeheim immer noch … Vielleicht würde ihr eine Reise zum Mond ja doch gefallen, selbst wenn sie aus Pappe ist?«
    »Pah, kann ich mir nicht vorstellen. Sie findet meine Basteleien albern. Deshalb hat sie mich ja auch verlassen. Bestimmt hat sie sich längst einen Mathematiker oder einen Offizier geangelt.«
    Selbst wenn mein Uhrmachermagier in Melancholie versinkt, ist sein Humor unverwüstlich. Sein fröhlich im Wind flatternder Schnurrbart ist daran vermutlich nicht ganz unschuldig.
    Nie zuvor habe ich so viel gelacht wie auf dieser abenteuerlichen Reise. Wir fahren heimlich in Güterzügen mit, schlafen wenig und essen, was wir in die Finger kriegen. Obwohl ich eine Uhr im Herzen habe, vergesse ich die Zeit. Immer wieder geraten wir in Regenschauer und müssten von diesen Wechselbädern längst eingelaufen sein. Aber nichts kann uns aufhalten. Ich fühle mich lebendiger denn je, und Méliès scheint es wie mir zu gehen.
    In Auxerre übernachten wir auf einem Friedhof und frühstücken auf dem Grab eines reichen Kaufmanns. Was für ein Luxus!
    In Lyon hängen wir uns mit unseren Rollbrettern an eine Kutsche und lassen uns über die Guillotière-Brücke

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