Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
weit über das Extraordinarium hinaus bekannt. Wenn sie in den Varietés der umliegenden Städte auftritt, sitze ich oft im Publikum. Ich liebe es, ihrer Stimme zu lauschen und den heißen Wind ihrer Flamencobewegungen auf meiner Haut zu spüren. Ich komme immer erst kurz nach Beginn der Vorstellung und gehe noch vor dem Ende, damit niemandem auffällt, dass ich ihr treuester Anhänger bin.
Nach dem Konzert warten Scharen von fein herausgeputzten Männern im Regen, um meiner Miss Acacia Blumensträuße zu überreichen, die größer sind als sie selbst. Die Männer machen ihr vor meiner Nase den Hof. Ich stehe am Rand eines schattigen Waldes und darf mich nicht zeigen. Die Kerle bewundern das Talent meiner großen kleinen Sängerin. Ich kenne Miss Acacias Feuer, das sie auf allen Bühnen lodern lässt, in- und auswendig, aber von ihrem täglichen Leben bin ich ausgeschlossen. Wenn ich sehe, wie sich ihre Funken in den Augen der Männer spiegeln, in deren Brust ein gesundes Herz schlägt, lecken Flammen an meinem Gesicht. Die Kehrseite der Liebesmedaille ist finster: Ich lerne die Eifersucht kennen.
Heute Nacht werde ich ein Experiment wagen. Damit Miss Acacia bis zum Morgen bei mir bleibt, werde ich meine Zeiger anhalten und die Zeit zum Stillstand bringen. Ich werde die Welt erst weiterlaufen lassen, wenn Miss Acacia mich darum bittet. Madeleine hat mir verboten, an meinen Zeigern herumzuspielen, wohl aus Angst, ich könnte die Zeit durcheinanderbringen. Hätte Aschenputtel eine Uhr als Herz gehabt, hätte sie die Zeit sicher auch kurz vor Mitternacht angehalten und sich für alle Ewigkeit auf dem Ball amüsiert.
Während Miss Acacia mit einer Hand ihre Stöckelschuhe überstreift und sich mit der anderen das Haar zurechtzupft, halte ich den Minutenzeiger an. Als ich ihn wieder loslasse, steht die Uhr meines Herzens seit einer guten Viertelstunde auf vier Uhr siebenunddreißig. Miss Acacia ist im totenstillen Labyrinth des Extraordinariums verschwunden. Das erste Vogelzwitschern des anbrechenden Tages übertönt das Geräusch ihrer sich entfernenden Schritte.
Ich hätte gern noch länger ihre Knöchel betrachtet, die schlank sind wie die eines Vögelchens. Ich wäre an ihren wohlgeformten Waden hochgewandert zu den bernsteinfarbenen Kieseln ihrer Knie und weiter an ihren halb geöffneten Schenkeln entlang, bis zur weichsten Landebahn der Welt. Dort wäre ich zum großen Finale im Küssen und Lecken angetreten. In Zukunft würde ich diesen Trick jedes Mal anwenden, wenn sie aufstehen und gehen will. Erst würde ich die Zeit anhalten, dann meine Zunge spielen lassen. Wenn ich die Welt dann weiterlaufen ließe, würde Miss Acacia sich herrlich entspannt fühlen und der Versuchung nicht widerstehen können, sich noch für ein paar sonnendurchflutete Minuten auf meinem Bett zu rekeln. In diesen kostbaren, dem Tag abgetrotzten Augenblicken würde sie mir allein gehören.
Aber es hilft alles nichts. Immer wenn ich mich schlaflos im Bett herumwälze, verkündet mir meine Uhr mit lautem Ticken das Verstreichen jeder einzelnen Sekunde, aber bei der Liebesmagie will sie mir nicht helfen. So sitze ich allein auf dem Bett und versuche vergeblich, das Stechen in meiner Brust zu lindern, indem ich meine Zahnräder massiere. Ach, Madeleine, du wärst so wütend …
Am nächsten Morgen statte ich Méliès einen Besuch ab. Er hat sich eine Werkstatt am Stadtrand eingerichtet, in der er hart an seinem Traum von den beweglichen Bildern arbeitet. Ich schaue fast jeden Nachmittag vor meiner Schicht in der Geisterbahn bei ihm vorbei. Oft ertappe ich ihn in flagranti mit einer »Señorita«. Mal ist es eine langhaarige Brünette, dann wieder eine dralle Rothaarige. Trotzdem bastelt er weiterhin unermüdlich an der Reise zum Mond, die er der Liebe seines Lebens schenken will.
»Die Señoritas trösten mich über meinen Liebeskummer hinweg. Diese Medizin mag zwar nur die Symptome lindern, aber sie hilft. In meinem Fall hat die Liebesmagie versagt. Wie gesagt, kein Trick funktioniert immer. Bevor ich mich wieder großen Gefühlen hingebe, brauche ich eine Zeit der Rekonvaleszenz, und ich darf auf keinen Fall aus der Übung kommen. Aber nimm dir bloß kein Beispiel an mir. Hör nicht auf, Traum und Wirklichkeit zusammenzuschweißen, und vergiss nicht das Wichtigste: Heute ist Miss Acacia in dich verliebt.«
9
rigitte Heim droht jeden Tag damit, mich zu feuern, wenn ich ihre Geisterbahn weiterhin zu einer Lachnummer mache, aber sie
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