Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
setzt ihre Drohung nie in die Tat um, weil die Besucher in Scharen herbeiströmen. Sosehr ich mich auch bemühe, Angst und Schrecken zu verbreiten, ich ernte nur Gelächter. Ob ich nun Oh When the Saints singe und wie Arthur hinke, im Kerzenschein Eier auf dem Gehäuse meiner Uhr zerschlage, mit dem Geigenbogen meinen Zahnrädern eine schräge Melodie entlocke oder von Wagen zu Wagen springe und den Leuten fast auf dem Schoß lande – nichts funktioniert. Sie lachen sich schief. Es gelingt mir einfach nicht, die Besucher zu erschrecken, weil das Ticken meiner Uhr in der Bahn widerhallt und sie deshalb immer genau wissen, wo ich ihnen auflauere. Manche Stammkunden lachen schon beim Einsteigen. Méliès ist der Meinung, ich sei ohnehin viel zu verliebt, um irgendwem Angst einzujagen.
Manchmal dreht Miss Acacia eine Runde mit der Geisterbahn. Sobald sie sich mit ihrem Vogelpo auf der Bank eines Wagens niederlässt, tickt meine Uhr noch lauter als sonst. Ich stecke ihr dann immer kleine »flammende« Zettel zu, als Vorgeschmack auf unsere nächtlichen Treffen.
Komm zu mir, mein loderndes Bäumchen, heute Nacht löschen wir das Licht, und ich bringe deine Knospen zum Glühen. Du wirst mit deinen Ästen am Himmel kratzen, und im kühlen Mondschein werden dir Schauer über die Rinde jagen. Frische Träume werden wie heißer Schnee auf uns herabrieseln. Du wirst deine Stöckelschuhwurzeln tief in den Boden treiben. Ich will deine Krone erklimmen. Ich will an dich geschmiegt einschlafen.
Meine Uhr schlägt Mitternacht. Mein Bett ist von Holzsplittern übersät, mein Gehäuse wird von Tag zu Tag morscher. Als Miss Acacia durch die Tür kommt, trägt sie wie immer keine Brille, aber ihr Blick ist so ernst, als wären wir geschäftlich verabredet.
»Gestern Nacht warst du komisch. Du hast dich nicht von mir verabschiedet und mir nicht mal einen Kuss gegeben. Du hast nur wie hypnotisiert an deiner Uhr herumgefummelt. Ich hatte Angst, du würdest dir an den Zeigern wehtun.«
»Tut mir leid, ich habe etwas ausprobiert, damit du noch ein bisschen länger bei mir bleibst, aber es hat nicht funktioniert.«
»Nein, es hat nicht funktioniert. Natürlich nicht. Spiel keine Spielchen mit mir. Ich liebe dich, aber du weißt, dass ich nicht bis zum Morgen bleiben kann.«
»Ich weiß, ich weiß … Deshalb wollte ich ja auch –«
»Außerdem könntest du deine Uhr im Bett ruhig ablegen, ich hole mir immer blaue Flecken, wenn wir …«
»Meine Uhr ablegen? Das geht nicht!«
»Natürlich geht das! Ich schminke mich ja auch ab, bevor ich zu dir unter die Decke schlüpfe!«
»Nicht immer! Außerdem bist du nackt und mit geschminkten Augen wunderschön.«
Unter ihren Wimpern stielt sich schüchtern die Sonne hervor.
»Ich kann meine Uhr jedenfalls nicht ablegen!«
Miss Acacia schürzt ihre elastischen Lippen, als wollte sie sagen: ›Ich glaube dir höchstens zu siebzig Prozent.‹
»Ich bewundere ja, wie fest du an deine Träume glaubst, aber irgendwann musst du auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Du musst erwachsen werden. Du willst doch wohl nicht, dass dir ein Leben lang Uhrzeiger aus dem Hemd ragen«, sagt sie im Grundschullehrerinnenton.
Seit unserer ersten Begegnung war ich ihren Armen nie ferner.
»Doch. So funktioniere ich nun mal. Die Uhr gehört zu mir, sie lässt mein Herz schlagen, ohne sie kann ich nicht leben. Ich muss das Beste daraus machen. Ich muss mein Anderssein nutzen, um über mich hinauszuwachsen. So wie du, wenn du die Bühne betrittst und singst. Es ist dasselbe.«
»Ist es nicht, du kleiner Schwindler«, sagt sie und fährt mit dem Fingernagel über das Gehäuse.
Ihr Verdacht, meine Uhr sei nur ein Accessoire, das man beliebig an- und ablegen kann, trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich könnte Miss Acacia nicht lieben, wenn ich ihr Herz für eine Attrappe hielte, sei sie nun aus Glas, Fleisch und Blut oder Eierschalen.
»Lass die Uhr dran, wenn du unbedingt willst, aber pass mit den Zeigern auf …«
»Glaubst du mir denn?«
»Im Moment ungefähr zu siebzig Prozent. Beweis du mir, dass ich dir zu hundert Prozent glauben kann, little Jack …«
»Warum fehlen mir dreißig Prozent?«
»Weil ich die Männer kenne.«
»Ich bin nicht ›die Männer‹.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja!«
»Du bist ein geborener Schwindler! Selbst dein Herz ist nur zur Hälfte echt!«
»Das einzig Echte an mir ist mein Herz!«
»Siehst du, du hast immer auf alles eine Antwort. Aber selbst das
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