Die Medica von Bologna / Roman
setzen, und überlegte, warum es mir keine Schwierigkeiten bereitete, den Schritt zum Stuhl zu machen, den Schritt zum Spiegel jedoch nicht. Welche rätselhafte Kraft steuerte mich?
Wirre Gedanken bemächtigten sich meiner. Ich fragte mich, ob in mir eine Doppelgängerin wohne, ein Ebenbild von mir, eine zweite Carla, die stärker war als ich und mir die gewünschte Bewegung verweigerte. Oder ob es die jedem Menschen innewohnende Seele sei, die mir den Schritt zum Spiegel verbot, und ich fragte mich auch, wo meine Seele wohl säße. Im Kopf oder im Herzen?
Vieles sprach für das Herz, denn es war der Sitz aller Gefühle. Man konnte jemanden von Herzen willkommen heißen, von Herzen umarmen, von Herzen lieben, man konnte ihm aber auch das Herz brechen, das Herz schwermachen, das Herz zum Bluten bringen. Man sprach von einem guten, treuen, warmen, edlen, stolzen Herzen, von Worten, die einem zu Herzen gehen, und davon, dass man einem Menschen nicht ins Herz sehen könne.
Andererseits war, wie ich von Marco wusste, das Herz nur ein Muskel. Ein Muskel als Sitz der Gefühle, als Sitz der Seele? Ein Muskel, der irgendwann abstarb und beides – Gefühle und Seele – mit in den Tod nahm? Das war kaum vorstellbar, allein schon deshalb, weil die von Gott geweihte Seele unsterblich ist.
Nein, die Seele saß in meinem Kopf, so musste es sein. Sie war es, die mich steuerte und meinen Schritten Halt gebot. Ebenso, wie sie mir gestattete, mich hinzusetzen – weil sie genau wusste, dass ich dabei nicht in den Spiegel schauen musste. Wie rätselhaft meine Seele doch war …
Mag sein, dass diese Erkenntnis mir weiterhalf, mag sein, dass ich mich einfach etwas beruhigt hatte, in jedem Fall war es mir nach einiger Zeit möglich, aufzustehen und den entscheidenden Schritt vor
brutto nemico
zu wagen.
Ich hätte es nicht tun sollen.
Denn zum ersten Mal seit vielen Jahren sah ich mein grausames Mal wieder. Seine violette Farbe sprang mich an wie ein Tier, wild und fratzenhaft, abstoßend wie Luzifer selbst. Ich riss die Arme schützend vor mein Gesicht und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ich schrie aus Leibeskräften, ich schrie meine ganze Angst und meine ganze Seelennot hinaus, ich schrie und schrie, und dann sank ich in mich zusammen und begann bitterlich zu schluchzen.
Eine Hand legte sich auf meinen Kopf. Es war die Hand meiner Mutter. »Du solltest nicht in den Spiegel schauen«, sagte sie mit leisem Vorwurf. »Solange du nicht hineinschaust, ist es nicht da, das schreckliche Mal, daran musst du immer denken. Und nun komm.« Sie half mir auf und führte mich aus dem Zimmer. Sie geleitete mich zu meinem Bett und sorgte dafür, dass ich mich hinlegte. Dann deckte sie mich zu, brachte mir ein Glas mit starkem Wein und sagte: »Trink das, es ist guter Wein, von Pater Edoardo persönlich gesegnet.«
»Nein!«
»Glaub mir, Pater Edoardo hat ihn eigenhändig in der Sakristei von San Rocco gesegnet.«
»Ich möchte ihn nicht.«
Zum Glück bestand sie nicht darauf, dass ich das zweifelhafte Getränk zu mir nahm, sondern stellte es mit einem Seufzer beiseite. »Es wäre besser, du würdest den Wein trinken, nun ja, vielleicht nachher.« Sie blieb noch eine Weile und strich mir mehrmals über die schweißnasse Stirn. »Brauchst du noch etwas, meine Kleine?«
»Nein danke.«
»Dann lasse ich dich jetzt allein. Schlafe ein wenig, ich will zu Gott beten, dass der Schlaf dich erquickt.«
Doch ich wollte nicht schlafen. Meine Angst vor schlechten Träumen war viel zu groß. Ich blieb wach und hörte, wie sie sich im angrenzenden Raum zu schaffen machte. Dabei sprach sie wieder ihre seltsamen Gebete und Formeln, ein Zeichen, dass sie vor ihrem Hausaltar kniete. »Lasse Carla schlafen, Herr, schenke ihr gute Träume, lasse sie sich gesundschlafen, Herr, und halte deine schützende Hand über sie.« Wenig später hörte ich sie wieder aus der Bibel zitieren, es war der Satz, denn ich schon kannte:
»… und lasse die Zauberinnen am Leben.«
Eine Weile ging das so weiter, und ihre Stimme wurde immer lauter und drängender. Was hatte sie nur? Ich stand auf und legte das Ohr an die Wand, und was ich hörte, konnte ich kaum glauben: »… oh, Herr, bewahre sie vor Inkubus, dem nächtlichen Dämon, dem lüsternen Alb, dem geilen Sylvan, vertrockne seine Rute, lasse sie verfaulen, mach, dass er sich nicht mit ihr paart«, flehte sie. »Du weißt es, Herr, denn du bist allwissend, nie nahm Carla Hexensalbe oder Zaubertrank,
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