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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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zurückgeht. Er war der Herrscher von Pontos, einem Königreich in Asien. Besagter Mithridates hatte große Angst, eines Tages von seinen Untertanen vergiftet zu werden, weshalb er es sich zur Gewohnheit machte, in regelmäßigen Abständen ein Elektuarium aus toxischen Stoffen zu sich zu nehmen. Hast du so weit alles verstanden?«
    Ich bin nicht dumm, wollte ich antworten, aber ich mochte seinem Eifer keinen Dämpfer aufsetzen, und so sagte ich nur: »Ja, habe ich.«
    »Dann kommt jetzt der springende Punkt: Mithridates steigerte im Laufe der Zeit das Gift-Quantum immer mehr, bis sein Körper sich an die tödlichen Stoffe gewöhnt hatte. Ihn zu vergiften war danach nicht mehr möglich.«
    »Woran ist er denn gestorben?«
    »Als er sterben wollte, weil seine Familie ihn abgesetzt hatte, ließ er sich erdolchen, denn vergiften konnte er sich ja nicht mehr.«
    »Das leuchtet mir ein.« Ich überlegte einen Moment. »Und mit den Spiegeln soll ich es genauso machen?«
    »Du hast es erfasst. Irgendwann wirst du immun gegen deinen Anblick sein, du musst nur die Anzahl der Spiegel im Werkstattzimmer nach und nach erhöhen.«
    Ich überlegte, wie ich das anstellen sollte, ohne Ärger mit meiner Mutter zu bekommen, und sagte: »Wenn ich es richtig verstanden habe, würde der vorhandene Spiegel ausreichen, wenn ich nicht nur ein Mal, sondern mehrmals in ihn hineinschaue. Die ›Giftdosis‹ würde sich so doch auch erhöhen?«
    Marco sperrte den Mund auf. »Donnerwetter, daran habe ich gar nicht gedacht. Aber ich glaube, du hast recht.«
    Ich nickte und beschloss, den Versuch mit dem Spiegel zu wagen. Vielleicht konnte der Mithridates-Effekt mir tatsächlich helfen. Sicher nicht beim ersten Mal, aber vielleicht nach einer Woche? Ich malte mir aus, welch große Befreiung es für mich wäre, ohne Angst in den Spiegel schauen zu können, und wie schön das Leben dann für mich wäre. Und weil ich mit meinen Gedanken schon in der Zukunft war, fragte ich Marco: »Sag mal, wann heiraten wir eigentlich? Immer ist irgendetwas dazwischengekommen, aber allmählich wird es Zeit. Ich möchte heraus aus diesem Haus, in dem ich nichts anderes machen darf als niedere Schneiderarbeiten.«
    »Das verstehe ich.« Marcos Arm schlang sich um meine Taille. »Ich war in der letzten Zeit ein bisschen eigennützig.« Seine Hand wanderte hinauf zu meiner Brust, aber ich schob sie wieder hinunter. Mir war nicht zum Turteln zumute, ich wollte wissen, wie mein künftiges Leben aussehen würde.
    Marco zog seine Hand fort und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Natürlich heiraten wir, glaubst du etwa, nur weil ich in den letzten Monaten studiert habe, hätte ich das vergessen?«
    Ich schwieg, denn ich war mir nicht ganz sicher.
    »Weißt du, was? Ostern haben alle Studenten vierzehn Tage Ferien, es müsste Anfang April nächsten Jahres sein, dann können wir beide in Ruhe heiraten.«
    »Das wäre wundervoll.« Der Gedanke, das freudlose Gesicht meiner Mutter nicht mehr täglich sehen zu müssen, gefiel mir sehr, und deshalb ließ ich es gern zu, dass Marco mich küsste. »Ich liebe dich doch«, sagte er und küsste mich weiter, »und du liebst mich doch auch?«
    »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte ich, »meine Mutter kann jeden Augenblick hereinkommen.«
     
    Am Abend, nach einem einfachen Risotto mit Käse und Pilzen, ging meine Mutter zu einer Nachbarin, um ihr ein paar geflickte Röcke vorbeizubringen. Sobald sie fort war, begann mir das Herz bis zum Hals zu schlagen, denn ich wusste, jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die »Giftdosis« des Spiegels zu schlucken. Mit zaghaften Schritten näherte ich mich
brutto nemico,
dem »hässlichen Feind«, im Werkstattzimmer, ging näher und näher auf ihn zu, doch kurz bevor ich ihn erreichte, musste ich haltmachen. Ich zitterte so sehr, dass ich nicht weitergehen konnte. Ich versuchte, mir Mut zuzusprechen, sagte mir, dass es nur ein Spiegel sei, ein toter Gegenstand, der mir nichts zuleide tun könne. Aber es ging nicht. Ich schimpfte mit mir, machte mir klar, dass ich mittlerweile neunzehn Jahre zählte, redete mir immer wieder zu, dass es höchste Zeit sei, der Angst ein Ende zu setzen. Ich wollte, ich musste weitergehen, aber meine Beine bewegten sich nicht. Sie versagten mir den Dienst.
    Ich hatte seit Jahren nicht mehr geweint, doch nun weinte ich. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, fiel mein Blick auf den Stuhl neben dem Spiegel. Ich beschloss, mich erst einmal zu

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