Die Medica von Bologna / Roman
sah, wie sie mit sich kämpfte, aber dann brachte sie es doch nicht fertig. Sie stand abrupt auf und ging in ihr Werkstattzimmer.
Ich blieb zurück und kam einmal mehr zu dem Schluss, dass mit meiner Vergangenheit irgendetwas nicht stimmte.
Etwas Schreckliches, das ich nicht wissen durfte.
Die ersten Monate des Jahres 1572 brachten sehr viel Kälte mit sich. Viele Menschen, die Bologna im Sommer erlebt haben, glauben, es wäre bei uns immer warm. Doch sie kennen den Frost nicht, der sich über Nacht auf die ganze Stadt legen kann und den Menschen am Morgen weiße Atemwolken vor die Gesichter treibt. In jenem denkwürdigen Jahr hatten wir sogar knöcheltiefen Schnee. Wer nicht unbedingt aus dem Haus musste, blieb in den eigenen vier Wänden und freute sich, wenn er einen guten Kamin und ein paar Klafter Brennholz hatte.
Die Studenten jedoch, das wusste ich von Marco, konnten nicht in ihren Quartieren bleiben. Sie mussten ihrem Studium nachgehen und vor jedem Lesungstag morgens um neun die halbstündige Messe in der Kapelle Santa Maria de’ Bulgari besuchen, nachdem
la scolara
sie zuvor dazu gerufen hatte. Die Professoren waren ebenfalls zugegen. Sie versammelten sich in den Seitenhallen der Kapelle und schritten nach dem Ende des Gottesdienstes feierlich als Erste hinaus. »Allein schon der Staffage wegen müsste ich eigentlich Professor werden«, schwärmte Marco mit leuchtenden Augen. »Du solltest einen von ihnen mal zu Gesicht bekommen, wie er daherschreitet in seiner wallenden Toga, mit den weiten Ärmeln und dem Umhang aus Hermelin, den Mittelgang und die Flure entlang, vorbei an den zahllosen Wappen der Honoratioren und ehemaligen Studenten, bis in den großen Vorlesungsraum hinein, die ganze Zeit begleitet von ausgewählten Bediensteten. Alle tragen die traditionellen Silber-Tamboure über ihren Schultern und sind schwarz gekleidet in Jacken und Kniehosen und in Umhänge aus Seide. Glaube mir, jeder Student, und sei er noch so respektlos, erhebt sich bei diesem Anblick.«
»Das glaube ich«, sagte ich mit zwiespältigen Gefühlen. Denn ich wusste: Nichts von alledem, was er so anschaulich schilderte, würde ich jemals mit eigenen Augen sehen, und dennoch konnte ich nicht genug davon hören.
»Am Ende des großen Vorlesungsraums steht der Lehrstuhl mit dem eichenen Pult. Stell dir vor, die Lehne des Stuhls reicht bis zur Decke hinauf, und von dem höchsten Punkt der Lehne breitet sich ein Baldachin aus, auf dessen Borte du eine mit Fresken verzierte Abbildung der Heiligen Jungfrau siehst. Es ist
fantastico!
«
»Bestimmt.«
»Von Professor Aranzio habe ich dir schon berichtet, du weißt doch, er lehrt die Kunst der Chirurgie.«
»Ich erinnere mich.«
»Aranzio unterrichtet in einem eigens nach ihm benannten Raum, der
Scuola d’Aranzio
heißt. Es ist ein eher kleiner Raum, überhaupt nicht möbliert, was bedeutet, dass wir Studenten vor jeder Lektion unsere Bänke selbst darin aufstellen müssen. Aber das stört keinen, denn was der Professor demonstriert, ist wirklich sehenswert: Er zergliedert Leichen mit Hilfe seiner Prosektoren. Das hört sich blutrünstig an, ist in Wahrheit aber eine Kunst, die ähnliches Geschick wie das Schuhmacher- oder Schneiderhandwerk erfordert. Du musst dir das so vorstellen: In der Mitte des Raums steht der marmorne Tisch, auf dem die Leiche liegt. An ihren beiden Enden brennen mehrere Fackeln, damit ausreichend Licht vorhanden ist. Und jeder Schnitt, den der Professor tut – oder tun lässt –, wird von ihm ganz genau kommentiert. Natürlich findet der Unterricht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weshalb vor dem Raum ein oder zwei Studenten postiert sind.«
»Natürlich«, sagte ich.
»Sag mal, du bist so kurz angebunden. Interessiert dich mein Studium nicht?«
»Doch, doch.«
»Dann ist es gut. Wo war ich gerade? Ach ja: bei Aranzio. Er hat sich jahrelang mit dem Wesen der Herzklappen beschäftigt und die nach ihm benannten Knoten entdeckt, ebenso, wie er als Erster einen bestimmten Oberarmmuskel beschrieben hat. Sag mal, hörst du mir überhaupt noch zu?«
»Ja … nein, doch.« In der Tat war ich einen Augenblick lang unaufmerksam gewesen, denn je mehr er erzählte, desto mehr wünschte ich mir, bei alledem dabei sein zu können.
»Was habe ich denn gerade gesagt?«
»Nun, äh, du sprachst von einem Muskel, einem Oberarmmuskel, glaube ich.«
»So ist es. Ich sprach von dem Rabenschnabeloberarmmuskel.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig
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