Die Medica von Bologna / Roman
glaubst du das nur?«, fragte ich zweifelnd, denn ich hatte bei meinen heimlich verfolgten Lektionen nie zuvor derartige Gedanken aus dem Mund von Professor Aranzio oder Doktor Tagliacozzi gehört.
»Das sagen sie selbst.« Marco schien wegen meines Misstrauens leicht gekränkt. »Allerdings posaunen sie es nicht gerade offiziell heraus, sondern äußern es eher bei Demonstrationen, die sie bei sich in ihren Privathäusern durchführen. Glaub mir, die Sprache ist das A und O für jeden Gebildeten, auch und gerade für Medizinstudenten wie mich. Die Geschicklichkeit im Disputieren und Argumentieren, dazu die Fähigkeit, Autoritäten wie Aristoteles zu zitieren, sind ein bedeutender Teil meiner Ausbildung. So die Worte von Doktor Tagliacozzi.«
Was Marco da sagte, hatte mich etwas beruhigt und sogar abgelenkt. »Wer ist Tagliacozzi?«, fragte ich und kam mir dabei ziemlich falsch vor, denn ich hatte ihn Dutzende von Malen mit seinen geschickten Händen zu Werke gehen sehen.
»Tagliacozzi ist ein Doktor der Medizin. Er ist noch jung, ich glaube, achtundzwanzig Jahre, aber sehr begabt. Er ist dabei, seine Graduierung für Philosophie zu erwerben, um Doktor beider Künste zu werden und in das erlauchte Kollegium der Universität zu gelangen. Warum willst du das wissen?«
»Ach«, sagte ich, »du hast seinen Namen noch nie erwähnt.« Was durchaus der Wahrheit entsprach.
Wenn auch, wie ich zugeben muss, nicht der ganzen Wahrheit.
Bald darauf nahm ich »meine Vorlesungen«, wie ich sie nannte, wieder auf, schon allein, um mich abzulenken. Die Ausführungen der Professoren empfand ich nach wie vor als überaus fesselnd. Atemlos verfolgte ich ihre Sektionen und Demonstrationen. Dennoch blieben Fragen offen, die sich aus den Widersprüchen zwischen dem, was mein Anatomiepüppchen Eva mir zeigte, und dem, was Professor Aranzio und Doktor Tagliacozzi lehrten, ergaben. Aber auch andere Gegensätzlichkeiten fielen mir auf, die ich immer dann, wenn Marco bei mir war, mit ihm zu besprechen versuchte. Einmal sagte ich zu ihm: »Ich habe aus meinen Büchern gelernt, dass der mechanische Antrieb zum Leben in der Kraft des Herzmuskels liegt, an anderer Stelle lese ich dagegen, dass die Leber als Sitz des Lebens gilt und mit der Sonne als Ausgangspunkt für die Urzeugung verglichen wird. Aristoteles selbst soll ebenfalls diese Auffassung vertreten haben. Wie kann man einen Philosophen wie ihn verehren, wenn er sich bei etwas so Wichtigem wie dem Herzen irrt?«
Ein anderes Mal sagte ich: »Immer wieder lese ich, dass Hippokrates als Begründer der Vier-Säfte-Lehre gilt. Alle Materie ist demnach in die Eigenschaften warm, kalt, feucht und trocken einzuordnen. Andererseits wird ausgeführt, dass Blut der wichtigste Lebenssaft ist, wichtiger noch als die vier Säfte, da ohne das Blut kein anderer Saft fließen würde. Lernen wir daraus, dass Hippokrates sich zumindest in Teilen geirrt hat?«
»Was du alles weißt!«, sagte Marco staunend. »Du musst ja eine Unmenge von Büchern gelesen haben. Respekt, Respekt.«
»Danke, aber lass mich bei einem Stichwort bleiben, dem Eiter. Wenn er Schlacke ist und somit der Gesundheit abträglich, wie kann er dann im Rahmen einer Nasenrekonstruktion als ›gut‹ bezeichnet werden? Gibt es zweierlei Arten von Eiter? Und wenn ja, wodurch unterscheiden sie sich? Woran kann ich erkennen, um welche Art es sich handelt?«
»Wo hast du denn das mit dem guten Eiter gelesen?«, fragte Marco zurück.
»Ich habe es nicht gelesen, ich habe es gehört. Conor, der Bettler, von dem ich dir erzählte, schilderte mir seine Operation, und in diesem Zusammenhang sagte er, Professor Aranzio hätte von gutem Eiter bei der Herstellung des notwendigen Lappenstiels gesprochen.«
»Ja, ja, das mag sein.« Marco kratzte sich am Kopf. »Ich kann da leider nicht mitreden. Weißt du was? Manchmal kommt es mir vor, als würdest du statt meiner an den Lehrstunden in der
Scuola d’Aranzio
teilnehmen.«
»Mach keine Scherze«, wies ich ihn zurecht und hatte Mühe, ein gleichgültiges Gesicht zu ziehen.
»Das Einzige, was mir zu deiner Frage einfällt, ist, dass die Humorallehre eben auch Unbegreifliches birgt. Aber das hast du selbst ja eben schon angedeutet. Insofern ist Eiter vielleicht keine Schlacke. Eben nur Eiter, mehr nicht.«
»Aber was ist er dann, gut oder schlecht?«
»Ich weiß es nicht.« Marco zuckte mit den Schultern. »Vielleicht mutiert er von Zeit zu Zeit, mal ist er gut, mal ist er schlecht, je
Weitere Kostenlose Bücher