Die Medica von Bologna / Roman
mich kurz darauf zu Tisch.
Da es mir trotz des bewährten Rezepts allein nicht recht schmecken wollte, ging ich nur wenige Bissen später wieder hinüber ins Werkstattzimmer. Dort, am großen Schneidertisch, nahm ich mir eine der Westen vor und betrachtete sie von allen Seiten. Sie bestand aus zwei Vorderteilen und einem Rückenteil; die Nähte verliefen seitlich und über der Schulter. Sie war nach vorn hin offen und konnte mittels Lederbändern geschlossen werden. Dazu gab es links und rechts Schnürösen auf gleicher Höhe, insgesamt acht. Die Schnürösen waren leicht ausgefranst, was offenbar vom Verknoten der Lederbänder herrührte. Dieser Zustand schien mir das Erste, was es zu verbessern galt. Ich nahm mir vor, die Schnürösen in Zukunft mit kräftigen Schlingstichen einzufassen und zu verstärken.
Doch dann hielt ich inne. Ich wollte nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Zunächst war zu überlegen, welche Anforderungen überhaupt an die Operationsweste gestellt werden mussten. Darauf gab es eine Reihe von Antworten: Sie sollte Halt geben, ohne den Atem zu nehmen, sie sollte fest sein, ohne zu scheuern, sie sollte eng sitzen, ohne zu zwicken – kurzum, sie sollte wie eine zweite Haut sein.
Die Weste, die ich in den Händen hielt, war alles andere als das.
Also machte ich mich an die Arbeit, und wie vorausgesehen, verbrachte ich die folgenden Nächte am Schneidertisch. Es würde zu weit führen, wollte ich an dieser Stelle die verschiedenen Schritte und die vielen Versuche, die ich unternahm, im Einzelnen schildern, ich will nur erwähnen, dass es eine lange, mühsame Entwicklung war, bis ich eine Woche später mit der neuen Weste im Weidenkorb meiner Mutter zur Via delle Lame gehen konnte, um Doktor Tagliacozzi das Kleidungsstück zu präsentieren.
Als sein Haus in mein Blickfeld rückte, bestätigte sich das, was ich durch vorsichtiges Nachforschen im Kloster erfahren hatte: Er entstammte einer alteingesessenen, sehr begüterten Bologneser Familie. Sein Großvater, Georgio, war Seilmacher gewesen und sein Vater, Giovanni Andrea, Satinweber. Dessen Zunft, ebenso wie die der Seidenweber und der Seidenhändler, gehörte zu den bedeutendsten Zünften Bolognas, da der Reichtum der Stadt sich seit Jahrhunderten auf Seide gründete.
Dementsprechend sah das Anwesen der Tagliacozzis aus. Mit ihrem
piano nobile
genannten oberen Geschoss, dem folgenden Mezzanin, den zwei darüberliegenden Stockwerken und der Dachterrasse als krönendem Abschluss glich es viel eher einem Palazzo als einem Wohnhaus. Kunstvolle Friese und Freskenmalerei mit Goldelementen schmückten den oberen Teil der Fassade; Balkone mit reichverzierten hölzernen Balustraden, über denen im Sommer schräg gespannte Leinenplanen vor der Sonne schützten, bestimmten den unteren, terrakottafarbenen Teil. Insgesamt wies jedes Stockwerk mehrere große Spitzbogenfenster auf.
Langsam näherte ich mich dem Haus, bewunderte das Wappen über dem Hauptportal und gelangte zu der hohen, zweiflügeligen Tür. Kurz nachdem ich den schweren, bronzenen Klopfer betätigt hatte, wurde mir geöffnet.
Eigentlich hatte ich Doktor Tagliacozzi erwartet, aber als ich einen älteren Mann in Livree erblickte, wurde mir klar, dass eine Familie wie die Tagliacozzis sich natürlich Dienerschaft hielt. »Schwester Carla?«
»Die bin ich.«
»Mein Name ist Adelmo. Ich bin der persönliche Diener des Herrn Doktor. Bitte folgt mir.«
Adelmo ging mit schnellen Trippelschritten durch eine Vorhalle und stieg dann eine Marmortreppe hinauf in den ersten Stock. Die Treppe war ein weiterer Hinweis auf das Vermögen der Familie, denn Marmor oder anderes dekoratives Gestein kommt im Umland Bolognas nicht vor, weshalb fast alle Häuser aus Ziegeln erbaut werden. Nur wer es sich wirklich leisten konnte, ließ teure Materialien von weit her heranschaffen. »Wenn Ihr Euch einen Moment gedulden wollt, Schwester, der Herr Doktor wird gleich kommen. Solltet Ihr bis dahin etwas brauchen, ruft einfach nach mir.«
»Danke, aber ich brauche nichts.«
»Sehr wohl.«
Adelmo verschwand und ließ mich allein. Ich blickte mich um und sah, dass ich in einem mittelgroßen Raum stand, dessen Erscheinung in erster Linie von einem schweren Tisch mit acht Stühlen geprägt wurde. Die Stühle hatten gedrechselte Lehnen, ihre Farbe glich der von Ebenholz. Da ich mir etwas verloren vorkam, setzte ich mich auf einen der Stühle und schaute mich weiter um. Alle vier Wände waren mit kunstvoll
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