Die Medica von Bologna / Roman
andere an ihm gefiel mir recht gut.
Doch das war nebensächlich. Doktor Tagliacozzi war unwichtig, seine Hände waren unwichtig, seine Stimme war unwichtig. Alles an ihm war unwichtig.
Viel entscheidender schien mir die Frage, ob ich meine heimlichen Besuche im Archiginnasio wieder aufnehmen könnte. Immerhin hatte ich die Lektionen über einen Zeitraum von mehr als acht Monaten regelmäßig verfolgt und mich daran gewöhnt, jeden Tag neues Wissen zu erlernen. Die
Scuola d’Aranzio
fehlte mir.
Doch natürlich war mein Ansinnen wirklichkeitsfern, um nicht zu sagen, lächerlich. Die alte Tür, durch die ich ins Gebäude geschlüpft war, hatte man sicher verriegelt, die fehlende Deckenkassette war gewiss ersetzt und der Beobachtungsspalt abgedichtet worden. Nein, der Weg ins Archiginnasio war mir ein für alle Mal versperrt.
Und doch musste ich immer wieder an die fesselnden Demonstrationen denken. Besonders an die letzten, die den Vierten und Fünften Akt der Nasenrekonstruktion an Messer de’ Bonfigli gezeigt hatten. Mir fiel ein, dass Doktor Tagliacozzi die Ausführung des Sechsten und des abschließenden Siebten Akts für die nahe Zukunft in Aussicht gestellt hatte. Wiederum in der
Scuola d’Aranzio.
Aber diesmal ohne mich.
Wie konnte ich nur die Verbindung zu Forschung und Lehre wiederherstellen? Es musste doch einen Weg geben!
Und dann fiel mir eine Möglichkeit ein.
Eine Möglichkeit, die ich sofort wieder verwarf.
Aber sie war zäh, immer wieder geisterte sie in meinem Kopf herum, ließ mich nicht los. Zwangsläufig beschäftigte ich mich mit ihr, prüfte sie, durchdachte sie und kam endlich zu dem Schluss, dass es Wahnsinn war, sie in die Tat umzusetzen.
Ein Wahnsinn, den ich wagen wollte.
Es war an einem Donnerstag, dem freien Tag für die Studenten, als ich vor dem Haupteingang des Archiginnasios stand. Ich wusste, dass der Lehrbetrieb an diesem Tag ruhte, aber ich wusste auch, dass es Ausnahmen gab, zum Beispiel Wiederholungsseminare für die Schwächeren der Herren
Studiosi.
Die Seminare wurden in der Regel nicht von älteren Professoren abgehalten, die den freien Donnerstag zu schätzen wussten, sondern von jüngeren Lehrkräften.
Deshalb wartete ich auf ihn.
Wenig später kam er, wie immer in Schwarz gekleidet, umringt von Studenten, die ihn durch ihr Gerede und Gehabe für sich einzunehmen versuchten. Fast hätte mich ihre Anwesenheit von meinem Vorhaben abgehalten, aber ich nahm meinen Mut zusammen und rief schüchtern: »Dottore Tagliacozzi …«
Kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, hätte ich sie am liebsten zurückgeholt, aber es war schon zu spät. Der Doktor blieb stehen und mit ihm seine fröhliche Studentenschar. »Was gibt’s?«, fragte er aufgeräumt. Dann musterte er mich.
»Ich … ich würde Euch gern sprechen, Dottore.«
Er kam heran, und ich stellte fest, dass er aus der Nähe noch viel besser aussah, als ich vermutet hatte. Das verwirrte mich, umso mehr, als er mich weiterhin aufmerksam taxierte. »Kennen wir uns, Schwester …?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Kennen wäre zu viel gesagt, Dottore, ich bin Schwester Carla«, erklärte ich hastig und rückte mir die weiße Haube zurecht. Es war eine Haube von der Art, wie sie die Nonnen von San Lorenzo tragen.
Zusammen mit der neuen schwarzen Zimarra war sie Teil meines Plans und gleichzeitig Unterpfand für meine Sicherheit, denn eine Nonne, so meine Überlegung, wurde nicht als Verursacherin von Marcos Tod gesucht.
»Schwester Carla? Nun, es mag sein, dass wir einander schon begegnet sind, allerdings kommt es nicht häufig vor, dass mich mein Weg in das Hospital Eures Klosters führt. Falls wir uns also kennen, bitte ich um Entschuldigung, dass ich Euch nicht gegrüßt habe, aber, die Bemerkung sei gestattet, Euer Schleier machte es mir auch nicht ganz einfach.«
Einige der Studenten kicherten, und ich wünschte sie insgeheim zur Hölle. »Das Anlegen des Schleiers soll gleichzeitig ein Symbol für das Ablegen der Eitelkeit sein«, sagte ich so würdevoll, wie es mir eben möglich war.
»Ich verstehe, Schwester. Ihr sagtet, Ihr wollt mich sprechen?«
»Ja, Dottore«, antwortete ich. »Wenn Ihr erlaubt, unter vier Augen.«
»Ihr macht mich neugierig.« Des Doktors Gesicht nahm einen amüsierten Ausdruck an. »Eine Nonne, die mit mir unter vier Augen sprechen will, das hat es noch nicht gegeben.«
Einige der Studenten lachten abermals, wurden aber mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht.
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