Die meerblauen Schuhe meines Onkels Cash Daddy
um schöne Stunden zu verleben.«
Wir taten wie geheißen. Die Schwangere neben mir streckte ihre fleischige Pfote aus und ergriff fröhlich meine Hand. Der adrette junge Mann übertrieb es ein wenig und bedachte mich mit einer leichten Umarmung. Überall im Saal gaben sich Männer und Frauen, Jungen und Mädchen lebhaftem Händeschütteln, fröhlichen Umarmungen und munteren Wortwechseln hin. Als alle fertig waren, wurde es wieder still im Saal.
Die Schwangere neben mir tauchte die Hand erneut in ihre Einkaufstasche und holte eine große Fleischpastete hervor. Mit der einen Hand schlug sie die Bibel auf und mit der anderen führte sie genüsslich die Pastete zum Mund. Beim Kauen machte sie leise schmatzende Geräusche, die sich anhörten wie Schritte auf einem durchweichten Teppich.
Der Priester verlas mit lauter Stimme einen Abschnitt aus dem Lukasevangelium:
Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein armer Mann mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.
Er beugte sich zu uns vor, die Hände fest um das hölzerne Pult geklammert, und forderte uns auf, uns einen Augenblick die Szene vorzustellen. Wir sollten uns vorstellen, wie Lazarus am Tor des reichen Mannes gestanden und um Almosen gebettelt hatte. Wir sollten uns vorstellen, wie der reiche Mann sich als Wohltäter fühlte, weil er einen armen Mann mit den Krumen speiste, die unter seinem Tisch lagen. Gehorsam stellte ich es mir vor. Die Wahl des Themas für die Predigt begeisterte mich. Ausgerechnet heute wurde von Armut und Reichtum gesprochen. Das war genau das, was ich brauchte.
Die Schwangere neben mir fischte ein gekochtes Ei aus ihrer Tasche. Sie schälte es geschickt und schob es sich dann ganz zwischen die Zähne.
Der Priester schaute wieder in sein Buch und las: Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief …
Die Stimme des Priesters wurde schrill:
… Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze meines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.
Er reckte die rechte Hand hoch in die Luft und wechselte wieder zu einer tieferen Stimmlage, die zum Schluss laut hallte.
Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt.
Der Priester entfernte sich vom Pult. Wild mit Armen und Beinen gestikulierend, erzählte er die Geschichte von den beiden Männern, die in der Ewigkeit landeten – der eine im Himmel und der andere in der Hölle –, noch einmal von vorne. Er forderte uns auf, uns vorzustellen, wie dem reichen Mann zumute gewesen sein musste, als er sah, dass jener arme Mann, den er mit Krumen abgespeist hatte, in Abrahams Schoß saß. Dann sollten wir uns vorstellen, wie sich Lazarus gefreut haben musste, als er erlebte, wie sich sein persönliches Glück auf diese Weise zum Guten wendete. Der Priester hielt ein paar Sekunden inne, um uns Zeit zu lassen, uns alles genau auszumalen. Ich sah in der Gemeinde umher. Aus den schadenfrohen Mienen schloss ich, dass sich einige weniger der Vorstellung von Lazarus in einer besseren Welt hingaben als der Vorstellung von dem reichen Mann, der in der Hölle briet.
Ich fragte mich, warum der Reiche in die Hölle gekommen war. War es, weil er böse war oder weil er reich war? Und war der Arme in Abrahams Schoß gekommen, weil er arm war oder weil er gut war? Dazu äußerte sich der Priester nicht. Mein Vater war arm. Und vermutlich würde er sich eines Tages wie Lazarus in Abrahams Schoß wiederfinden.
»Es ist alles gestohlenes Geld«, sagte er oft mit stolzgeschwellter Stimme, wenn er sah, dass sich wieder ein Kollege ein Haus gebaut oder ein neues Auto gekauft hatte. »Wie kann er sich das jemals von seinem Beamtengehalt leisten? Mich wird man wenigstens immer als ehrlichen Mann im Gedächtnis behalten. Keiner kann mir nachsagen, dass ich auch nur einen Viertelpenny gestohlen hätte.«
Mir schien es unmöglich, dass
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